© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Bemerkungen über die Entwaffnung Deutschlands
Es geht um die Souveränität
Helmut Roewer

Es sieht so aus, als hätten beide Dinge nichts miteinander zu tun: die Wehrpflicht und die Souveränität. Und in der Tat, beides ist jeweils ohne das andere denkbar: Ein nichtsouveränes Staatsgebilde kann die Wehrpflicht durchsetzen, wie das in den beiden deutschen Staaten ab 1956 der Fall war, ebenso kann ein souveräner Staat ohne die Wehrpflicht seine Souveränität bis hin zur Hegemonie ausleben. Ein Blick über den Atlantik hin zu den heute allmächtig erscheinenden USA läßt kaum einen Zweifel zu. Die folgenden Ausführungen sind daher auf das Wechselspiel zwischen beiden Instituten gerichtet. Dabei sind sowohl außen- wie innenpolitische Aspekte in den Blick zu nehmen.

Die Wehrpflicht, so formulierte es Theodor Heuss Anfang der fünfziger Jahre, sei ein legitimes Kind der Demokratie. Das ist, obwohl dies historisch unzutreffend ist, ein schönes Bild, denn den Deutschen in Westdeutschland galt es in eben diesen Jahren nahezubringen, daß ihre Söhne wieder Soldaten werden sollten, und zwar alle. Das war heikel, denn die sowjetische Besatzungsmacht auf der anderen Seite der Demarkationslinie verlangte von ihren Deutschen eben dasselbe. So kam es, daß sich weit über drei Jahrzehnte hinweg zwei bis an die Zähne bewaffnete Wehrpflichtarmeen gegenüberstanden. Sie schossen nicht aufeinander. Gottlob. Kein Mensch weiß, wie sie sich verhalten hätten, wenn es zum Schwur gekommen wäre. Jeder Leser, der einmal die Uniform der einen oder der anderen Seite getragen hat, möge versuchen, diese Frage für sich selbst ehrlich zu beantworten, nämlich: Hätte ich auf meine Landsleute geschossen?

Die Gelegenheit, diese Frage zu stellen, kam, als die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 unter dem Vorwand brüderlicher Verbundenheit die Tschechoslowakei heimsuchten, um dort das gewohnte, aber zwischenzeitlich abgesetzte Marionettenregime erneut zu installieren. Im Westen erlebte der wehrpflichtige Autor dieser Zeilen, wie sein Truppenausweis eingezogen wurde und die Leopard-Panzer zu den Munitionsbunkern des Standorts Munster in der Lüneburger Heide rollten. Wochenlanger Bereitschaftsdienst folgte. Dann war die Gefahr des Angegriffenwerdens vorüber. So jedenfalls sagte man uns. Heute und im Rückblick ist es klar, daß eine solche Gefahr niemals bestanden hatte. Es ging lediglich um eine willkommene Gelegenheit, die Gefolgschaft zu kontrollieren. Sonst nichts.

Unterstellt man dies als zutreffend, so hatte die Anordnung der Siegermächte an jeweils ihren Teil Deutschlands, schwer bewaffnete Wehrpflichtheere bereitzustellen, einen deutlichen Zug von dem, was man beim Organisierten Verbrechen die Keuschheitsprobe nennt. Es ist das Verlangen, ohne Wenn und Aber auf Befehl zu schießen. Im Falle der Zerschlagung des Prager Frühlings wurde diese Zumutung an die NVA gerichtet. Sie ging gehorsam bei Fuß, wenn auch im Hintergrund. Doch halt, das ist kein Anlaß zur Überheblichkeit für den Mann im Westen. Ihm blieb diese Zumutung lediglich erspart.

Deutschlands Söhne fallen heutzutage nicht für Volk und Vaterland, sondern für Demokratie und Rechtsstaat, bevorzugt in Gegenden, wo man dergleichen für Teufelswerk hält. Es ist ein Tod, für den das deutsche Volk keine Genehmigung gegeben hat.

Was die Regierung auf der anderen Seite des Atlantiks von der deutschen Wehrpflichtarmee dachte, wurde nie öffentlich geäußert und, wenn doch, so war es mit Sicherheit fragwürdig. Die Wahrheit trat aber unübersehbar zutage, wenn die virtuellen Schlachten der einschlägigen Nato-Stabsrahmenübungen geschlagen wurden. Der letzte einschlägige Krieg mit dem Autor als Teilnehmer fand 1988 statt. Das Territorium, auf dem dieser Krieg stattfand, war das deutsche, genauer gesagt, bevorzugt das westdeutsche. Daß das so war, lag an einer drückenden Überlegenheit russischer Panzerkräfte gegenüber einer sich, jedenfalls nach der Übungsannahme, nicht mit großem Elan schlagenden Bundeswehr. Um solche Kriege zu gewinnen, setzten die amerikanischen Strategen in den letzten Übungstagen regelmäßig Atomwaffen ein. Nicht zu groß, aber groß genug, um Freund und Feind auf deutschem Boden einschließlich der Städte und Dörfer zu vernichten. Es war die Politik der verbrannten Erde, die Wehrpflichtarmeen aus Ost und West das Heizmaterial. Das blieb öffentlich ungesagt.

Dann kam die Wiedervereinigung und mit ihr die formale Souveränität; die Wehrpflicht blieb. Nicht ohne Schadenfreude konnte man beobachten, wie eine Legion von Fahnenflüchtigen in West-Berlin 1990/91 wie aus heiterem Himmel Einberufungsbescheide bekam. Die Medien barsten vor Mitleid. Hatten sich nicht diese bedauernswerten jungen Männer auf ein Leben in Repressionsfreiheit eingerichtet? So schrieb und raunte es. Vom strafbaren Ergaunern eines Privilegs sprach niemand. Im Gegenteil: Wütende Angriffe auf die Wehrpflicht folgten. Wehrpflicht sei Kalter Krieg, und der sei gottlob vorbei.

Kaum ein Satz war so falsch und so richtig zugleich. In der Tat war der Kalte Krieg vorbei. Doch, anders als gedacht, begann nun auch für die Bundeswehr die Ära der wirklichen Kriege, in denen scharf geschossen wurde, sei es in Europa, in Asien oder in Afrika.

Es waren keine Kriege, zu denen Deutschland eigenmächtig ausgezogen wäre, ganz im Gegenteil, davon gab es nicht einen einzigen. Es waren anderer Leute Kriege, an denen sich Deutschland seit zwei Jahrzehnten finanziell und militärisch beteiligt, erst ein bißchen und dann richtig, sozusagen: volles Rohr. Es waren Angriffskriege, die durch Wort­akrobatik umgemodelt wurden, denn eines war den Deutschen nach der Justiz von Nürnberg und anschließenden Siegerbefehlen tief eingebrannt worden: Angriffskriege sind strafwürdige Verbrechen. Dieser Satz hat sogar Eingang ins Grundgesetz gefunden. Nur hält sich niemand mehr daran.

Manche meinen nun, Deutschland habe sich eben emanzipiert. Die Frage ist, ob das bedeutet, Deutschlands politisches Establishment habe sich vom Grundgesetz emanzipiert. Ein Zeichen von Souveränität? Wohl eher ist das Gegenteil richtig, und hört man nur genau genug hin, lauten alle Kriegs-Erklärungen, die dem deutschen Volk für dieses Tun offeriert werden, in etwa wie folgt: Wir waren durch internationale oder multinationale Entscheidungen verpflichtet. Zu deutsch: Unser Land besaß nicht die Souveränität, nein zu sagen.

Die Zahl der Kriege wurde größer. Es fielen Soldaten im Gefecht. Das hatte es seit 1945 nicht mehr gegeben. Gefallen für Volk und Vaterland? Weiß der Himmel, bloß das nicht. Deutschlands Söhne sterben heutzutage, wenn es sich nicht überhaupt totschweigen läßt, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Bevorzugt in Gegenden, wo einheimische Stammesgesellschaften dergleichen für Teufelswerk halten. Es ist ein Tod, für den das deutsche Volk keine Genehmigung gegeben hat und für den es eine Genehmigung niemals erteilen würde, nicht in Asien und schon gar nicht in Afrika.

Und nun kommt die Wehrpflicht dran. Je weiter die unangenehme Tatsache vom deutschen Volk ferngehalten werden kann, daß hier seine Söhne für was auch immer sterben müssen, desto besser für diejenigen, die diesen Tod durch ihre Einsatzbefehle billigend in Kauf genommen haben. Bei einer Wehrpflichtarmee kann man dies nicht verheimlichen und schlecht bagatellisieren. Der Grund ist simpel: Die Wehrpflichtarmee ruht mitten im Volk, die Verbindungen zwischen Volk und Armee sind hunderttausendfach, weil die Armee ein integraler Bestandteil des Volkes ist. Um eine Wehrpflichtarmee einsetzen zu können, muß man das Volk auf seiner Seite haben, sonst marschiert diese Armee schlecht oder gar nicht. Es gibt nur einen gangbaren Weg, sich über den Willen des Volkes hinwegzusetzen: Zunächst setzt man die Wehrdienstleistenden nicht ein, und wenn das nicht ausreicht, schafft man die Wehrpflichtarmee ab.

Jetzt ist Wiederbewaffnung angesagt. Ob das gelingt, ist fraglich. Doch eins erscheint sicher: Die Wehrpflicht wird nicht wiedereingeführt. Denn diese würde Deutschland in unkalkulierbarer Weise souverän machen. Und das will eigentlich keiner.

Da ist, liest man, das Grundgesetz davor, das klipp und klar das Gegenteil anordnet. Doch wen juckt schon groß das Grundgesetz. Es geht nicht um den Rechtsstaat, sondern um den Applaus der Medien. Die Abschaffung der Wehrpflicht wurde als „Befreiungsschlag“ gefeiert und mit ihr der politische Harlekin, der dies verursachte. Ausnahmsweise ehrlich wurde die Begründung nachgereicht: Die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee erfülle nicht die an sie gestellten Anforderungen. Nein, in der Tat, für weltweite Einsätze im fremden Namen war sie weder eingerichtet noch einsetzbar, sondern dafür, wie ihr Fahneneid das heute noch expressis verbis anordnet, das deutsche Volk tapfer zu verteidigen.

Die Abschaffung der Wehrpflicht hat Folgen, die nicht sofort sichtbar werden, aber, wie es sich nun zeigt, doch schneller als gedacht. Die Armee löst sich aus dem Volk. Das sieht man schon daran, daß die Bundeswehr trotz ihrer Verringerung auf ein nur noch lächerlich zu nennendes Maß nicht mehr den Nachwuchs gewinnen kann, der für den Erhalt der Kampfkraft notwendig wäre.

Kaum ist diese Erkenntnis Allgemeingut, als das Ruder des Bundeswehrzweckes erneut herumgerissen wird. Plötzlich soll die Bundeswehr in Richtung Rußland drohen. Womit denn nur?, fragt der wachsame Beobachter der Szenerie. Mit einer Handvoll Sanitätssoldatinnen, die dem bösen Feind Mullbinden um die Augen wickeln? Nein, ernsthaft, mit der Bundeswehr kann man niemandem drohen. Diese politische Option hat sich binnen zweier Jahrzehnte in Luft aufgelöst. Folgsam hat unsere nichtsouveräne Politik Deutschland in atemberaubendem Tempo entwaffnet.

Jetzt ist Wiederbewaffnung angesagt. Ob das gelingt, ist fraglich. Doch eins erscheint sicher: Es wird keine Wiedereinführung der Wehrpflicht geben. Denn diese würde Deutschland in unkalkulierbarer Weise souverän machen. Und das will eigentlich keiner.

Notwendige Schlußbemerkung aufgrund jahrelanger beruflicher Erfahrung: Es handelt nicht derjenige verfassungsfeindlich, der die Einhaltung des Grundgesetzes anmahnt, sondern das Gegenteil trifft zu. Wer die Verfassung aushebelt, weil er für sein Tun niemals die legale Voraussetzung schaffen könnte, handelt verfassungswidrig. Hierbei ist die Frage der Wehrpflicht nur ein Beispiel. Es geht im Kern um die Souveränität. Auch hierfür weiß das Grundgesetz eine unmißverständliche, jedoch in Vergessenheit geratende Antwort: Souverän im staatsrechtlichen Sinne ist das deutsche Volk und nicht, wie es neudeutsch heißt, „die Menschen draußen im Lande“.






Dr. Helmut Roewer, Jahrgang 1950, war von 1994 bis 2000 Präsident des

Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen.