© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Revolution im schalltoten Raum
Herwig Birg zieht die Summe seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der „alternden Republik“ und dem „Versagen der Politik“
Michael Paulwitz

Seit Jahrzehnten ignoriert die Bundesrepublik Deutschland die am genauesten prognostizierte Krise ihrer Geschichte. Seit Jahrzehnten auch erhebt Herwig Birg, von 1981 bis 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, diesen Warnruf. Und mindestens ebenso lange weigert sich die politische Klasse, nach Wegen aus der „demographischen Sackgasse“ zu suchen, in der das Land tief feststeckt. Die fatalen Folgen, die sinkende Geburtenraten, Bevölkerungsrückgang und Überalterung für den Fortbestand des Gemeinwesens und seiner Institutionen und sozialen Sicherungssysteme haben, werden abwechselnd geleugnet, schöngeredet oder aber als Vorwand für falsche Schlüsse mißbraucht, die die Krise noch verschärfen.

Während die große Koalition neue Umverteilungswohltaten beschließt und namentlich die noch sprudelnden Einnahmen der Rentenkassen ausgibt, als gäbe es kein Morgen, läßt sich leidlich exakt vorausberechnen, daß sich die sozialen Gegensätze und Interessenkonflikte aufgrund des demographischen Niedergangs nicht erst in ferner Zukunft dramatisch zuspitzen werden. Bereits in gut anderthalb Jahrzehnten, wenn mit dem Jahrgang 1965 die letzten der „Babyboomer“-Generation (JF 2/15) das Rentenalter erreichen, ist die Krise der Renten- und Sozialsysteme programmiert.

Alterskohorten, die zahlenmäßig nur mehr etwa halb so stark sind wie die der dann nicht mehr im Erwerbsleben Stehenden, werden dann in weit ungünstigerer Relation die Verteilungsmasse für ein ungleich größeres Heer an Alten mit ihrem erhöhten Krankenversorgungs- und Pflegebedarf erwirtschaften müssen, obwohl die geschrumpften Nachrückerjahrgänge selbst höhere Transferempfängerquoten aufweisen als vorangegangene Generationen. Daß dies auf höhere Abgabenlasten, niedrigere Leistungen oder eine Kombination aus beidem hinausläuft, liegt auf der Hand.

Die jahrgangsspezifische Geburtenrate, die sich auf das Geburtsjahr der Frau bezieht („Cohort Fertility Rate“, CFR), weist noch stetiger nach unten als die auf das Geburtsjahr des Kindes bezogene kalenderspezifische Geburtenrate („Total Fertility Rate“, TFR), die stärker von zeithistorischen Ereignissen beeinflußt wird als die auf die ganze Lebensspanne bezogene Fortpflanzungsrate. Seit dem Jahrgang 1855, der im Schnitt noch mehr als fünf Kinder hatte, liegt die Geburtenrate eines jeden Frauenjahrgangs unter dem des vorangegangenen, mit Ausnahme der zwischen Mitte der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre geborenen Frauen, die für den „Babyboom“ der Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahre verantwortlich waren, deren generatives Verhalten aber wesentlich auf die Sozialisierung in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht.

Nur bei diesen Jahrgängen stieg die Geburtenrate noch einmal über das bestandserhaltende Niveau von 2,1 Kindern pro Frau, unter das sie bereits mit dem Frauen-Geburtsjahrgang 1900 dauerhaft gefallen war. Dieser Trend folgt freilich in hohem Maße einer Gesetzmäßigkeit, die Birg als „demographisch-ökonomisches Paradoxon“ beschreibt: Je höher sozio-ökonomische Entwicklung und Lebensstandard eines Landes, desto niedriger die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau. Kritiker wie der Sozialhistoriker Volkmar Weiss merken an, daß dies auch für die Sozialschichten innerhalb eines Landes gilt: Wer einen höheren Status erreicht hat, beschränkt seine Nachkommenzahl, damit diese bessere Chancen haben, den Status zu halten. Das ist in Industrieländern ebenso wie in Schwellenländern zu beobachten und entzieht sich zu einem wesentlichen Teil jeglicher politischer Steuerung.

Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Verschwinden

Warum spricht Birg aber trotzdem von einem „Versagen der Politik“? Schrumpfung und Überalterung vollziehen sich parallel in den meisten Industriestaaten, in Japan sogar noch extremer als in Deutschland. Die Entwicklung hierzulande weist gleichwohl eine Reihe von Besonderheiten auf. Der Nachkriegs-„Babyboom“ setzte – in der Bundesrepublik und der DDR weitgehend parallel – später ein als beispielsweise in den USA und verlief weniger intensiv.

Vor allem aber ist in Deutschland der Anteil der lebenslang Kinderlosen extrem hoch und wächst weiter, während die Geburtenrate der sinkenden Zahl jener, die sich nach wie vor für Kinder entscheiden, relativ konstant dem Idealwert von zwei Kindern je Frau entspricht. Das dynamisiert den demographischen Niedergang: Die nichtgeborenen Kinder der einen Generation sind die fehlenden Eltern der nächsten. Es ist also vor allem die Geburtenverweigerung der „Babyboomer“, die nicht nur dieser Generation, sondern dem Volk selbst demographisch den Ast absägt.

Das Versagen einer Generation wird in dem Moment zum Versagen der Politik, wenn die Analyse und Kenntnisnahme der Realitäten und Folgen bewußt verweigert wird, mögliche Gegenmaßnahmen aus Feigheit oder Kalkül absichtlich nicht ergriffen werden, sondern stattdessen das Problem abwechselnd bagatellisiert oder gar zur „Chance“ schöngeredet und umgedeutet wird. Herwig Birg macht nationale Traumata als Ursache dieser Haltung aus: Der dezidierte Verzicht auf jegliche „Bevölkerungspolitik“ zur Steigerung der Geburtenraten wird damit begründet, daß Gedanke und Begriff durch die NS-Zeit kontaminiert seien. Das gebrochene Verhältnis zu Volk und nationaler Identität äußert sich in einer selbstzerstörerischen Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Verschwinden; ein Bundespräsident Horst Köhler stellte in einem Redemanuskript die Frage, ob das Schrumpfen der Deutschen angesichts globaler Bevölkerungsexplosion und Umweltzerstörung nicht vielmehr „Lösung“ als Problem sei.

Angesichts des marginalisierten Anteils Deutschlands und der Industriestaaten an der Weltbevölkerung ist das nicht nur eine groteske Verkennung der Dimensionen, es ignoriert auch die Wirkungen des Migrationssoges, die wohlhabende Räume mit alternder und schrumpfender Bevölkerung auf die schier unerschöpflichen Menschenüberschüsse anderer Räume ausüben. Im wohl brisantesten Kapitel der Summe, die Herwig Birg aus seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der politischen Demographie zieht, widerlegt er schlüssig die fatalen Irrtümer einer politischen Strategie, die forcierte Einwanderung für die Lösung demographischer Herausforderungen und, wie der Wortführer des „Rats für Migration“ Klaus J. Bade, nicht die Familie, sondern Migration für die Keimzelle der Gesellschaft hält.

Selbst UN-Berichten entnimmt Herwig Birg, daß Migration, die fehlende autochthone Bevölkerung ersetzt, mehr Probleme schafft, als sie löst, weil sie Deutschland Zug um Zug in eine „Multiminoritätengesellschaft“ verwandelt. Vehement weist Birg die in seiner Disziplin Platz greifende ökonomistische Sichtweise zurück, die anstelle des Volkes und der gemeinsamen „Zugehörigkeit von Menschen zu einer bestimmten Gesellschaft mit einer verbindenden Geschichte, Sprache und Kultur“ eine „Bevölkerung“ aus austauschbaren Nomaden zugrunde legt. Einwanderung, die „internationaler Wettbewerb um die Besten“ sein will, ist Wirtschaftskrieg, eine „moderne Spielart des Kolonialismus“; Einwanderung, wie sie in Deutschland real stattfindet, ist ein Minusgeschäft, das mit einem Wall von Denkverboten und statistischen Falschmeldungen verschleiert wird, so daß der achselzuckend hingenommene Ersatz eigenen Nachwuchses durch Einwanderer aus anderen Gesellschaften faktisch als „Revolution im schalltoten Raum“ stattfindet.

Beispielsweise wird der positive Effekt der – ohnehin vorübergehenden – Einwanderung qualifizierter Europäer aus Krisenstaaten wie Spanien einseitig hervorgehoben, obwohl diese Migration nur einen Bruchteil des Millionenzustroms an Unqualifizierten ausmacht. Oder das Statistische Bundesamt verblüfft mit der Mitteilung, Menschen „mit Migrationshintergrund“ wiesen höhere Abiturientenanteile als Autochthone auf, ohne die zwischenzeitliche Verzehnfachung der Abiturientenquote im Bildungssystem zu berücksichtigen; der korrekte altersspezifische Vergleich ergibt, daß der Abiturientenanteil bei der Migrationsbevölkerung „in jedem einzelnen Altersjahr niedriger als bei den Nicht-Migranten“ ausfällt.

Unqualifizierte Einwanderung senkt das schulische und berufliche Qualifikationsniveau und drückt damit die Standortqualität, die volkswirtschaftliche Arbeitsproduktivität und letztlich den Wohlstand. Eine Gesellschaft, der es an Selbstachtung fehlt und die sich nicht als „lohnendes Integrationsziel“ begreift, bürdet sich unüberwindliche Integrationsprobleme auf, sowohl vertikal bei der Eingliederung der einzelnen Einwanderergruppen als auch horizontal, weil rivalisierende Immigrantenbevölkerungen wie Türken und Kurden ebenfalls miteinander auskommen müssen. Das Gemeinwohl eines Landes ist auch mehr als die Summe der Einzelinteressen; der Wille dazu läßt sich nicht auf andere delegieren, „schon gar nicht auf die Eingewanderten“. Und schließlich droht durch die Einwanderung „bildungsferner Bevölkerungsgruppen“ ein für Generationen irreversibler „Kulturabbruch“.

Eine Politik, die „für Einwanderungen und zu Lasten des eigenen Nachwuchses und der Familien“ praktiziert wird, geht als schlechteste Lösung den Weg des geringsten Widerstandes und schafft neue Probleme, statt alte zu lösen. Der Interessenkonflikt zwischen Zugewanderten und Autochthonen ist eine der fünf von Herwig Birg identifizierten „demographischen Plagen“, die anderen sind der Generationenkonflikt zwischen Alten und Jungen, der Verfassungskonflikt zwischen Eltern und Kinderlosen, der Regionalkonflikt zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen und der Finanzkonflikt um die Rückzahlung aufgenommener Schulden durch die nachrückenden zahlenschwachen Generationenkohorten.

Generationengerechtigkeit als Schlüssel zur Stabilität

Die Forcierung von Einwanderung ist der folgenschwerste der falschen Schlüsse, die eine versagende Politik aus der demographischen Herausforderung zieht. Sie macht die trügerische Hoffnung, das Wohlstandsniveau einer alternden Gesellschaft trotz sinkender Beitragszahleranteile durch Produktivitätssteigerung aufrechtzuerhalten, vollends zur Milchmädchenrechnung. Kapitalgedeckte Altersversorgungsmodelle können nur Ergänzung, nicht Ersatz für das Umlageverfahren sein, weil auf Dauer nur verteilt werden kann, was produktiv erwirtschaftet wird. Die ebenfalls mit Verve propagierte Steigerung der Frauenerwerbsquote wiederum erhöht zwar momentan das Arbeitskräfteangebot, kann die Geburtenrate aber entgegen der gängigen Darstellung nicht positiv beeinflussen, sondern verringert sie weiter.

Bislang verkündete „Demographiestrategien“ bezeichnet Birg folglich als „Irreführung der Gesellschaft durch ihre demokratisch gewählte Regierung“, weil sie jede Überlegung zur zentralen Frage, der Steigerung der Geburtenrate, gezielt aussparen. Zwar kann der Staat die „Opportunitätskosten“, also den rechnerischen Konsum- und Einkommensverzicht durch die Kinderentscheidung eines Paares, nicht ausgleichen. Er muß das auch nicht, weil die Entscheidung für Kinder nie ein rein ökonomischer Entschluß ist. Demographische Stabilität ist gleichwohl nur durch Generationengerechtigkeit zu erreichen. Birg plädiert deshalb für die Beseitigung manifester Benachteiligungen, die den Generationenvertrag sprengen, weil sie Kinderlosigkeit belohnen und Elternschaft bestrafen.

Selbst wenn die von Birg vorgeschlagenen Maßnahmen wie Mütter- statt Frauenquoten oder die generationengerechte Reform von Steuer- und Sozialabgabensystem umgesetzt würden und Wirkung zeigten, würde es allerdings Generationen dauern, bis aus dem demographischen Niedergang ein Wiederaufstieg würde. Ob es dann noch ein Deutschland gibt, das mehr ist als ein beliebig bevölkertes Territorium dieses Namens, ist die düstere Frage, die nach der Birgschen Prognose, die die „demographische Katastrophe“ in eine Reihe mit den großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts stellt, im Raum stehenbleibt.

Herwig Birg: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Eine demographische Prognose. Lit Verlag, Berlin 2015, gebunden, 242 Seiten, 34,90 Euro

Foto: Nur noch ein Säugling auf der Station, Seligenstadt in Hessen 2006: Die Geburtenverweigerung der „Babyboomer“ sägt nicht nur dieser Generation, sondern dem Volk selbst demographisch den Ast ab