© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Nicht zu leise sein
Sudetendeutscher Tag: Die Vetriebenen müssen an ihren Kernanliegen festhalten
Gernot facius

Die treffende Beschreibung eines nie spannungsfreien Verhältnisses stammt von Walter Becher, 1968 bis 1982 Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL): „Die Bundesregierung hat ihre Aufgabe, der Bund der Vertriebenen (BdV) seine. Aber der BdV muß um zwei Lautstärken lauter sein als die Regierung, damit die Regierung einen Ton lauter werden kann.“ Zu Bechers Zeiten hat das noch funktioniert, wenigstens partiell. Heute nicht mehr.

Geht es um heimatpolitische Fragen verhält sich der BdV nicht anders als die Regierenden: Er beschränkt sich auf politisch korrektes Gesäusel über einen „Brückenbau“ zu den Nachbarn im Osten. BdV-Präsident Bernd Fabritius dankt der Bundeskanzlerin für „ihre verläßliche Partnerschaft an der Seite der Vertriebenen“, obwohl Angela Merkel alles darangesetzt hat, eine öffentliche Debatte über eine – zumindest symbolische – Heilung des Vertreibungsunrechts zu verhindern. In der Entschädigungsfrage wurde den Vertriebenen der gebotene diplomatische Schutz verweigert, Berlin hat sich aus der Obhutspflicht herausgestohlen. Vergessen sind auch Petitionen von Vertriebenen bei Organen der Vereinten Nationen.

Die führenden Funktionäre von BdV und Landsmannschaften, politisch in CDU und CSU beheimatet, haben das hingenommen. Es siegte die Parteiräson. Da paßt es ins Bild dieses Wohlverhaltens, daß Fabritius die SL ausdrücklich für ihre (allerdings noch nicht rechtskräftige) Satzungsänderung lobt, sie als gutes Signal in Richtung Prag preist.

Zur Erinnerung: Die SL-Bundesversammlung hat die in der Tat mißverständliche Forderung nach „Wiedergewinnung der Heimat“ gestrichen. Zugleich wurde zum Entsetzen vieler Landsleute der Verzicht auf Restitition oder Entschädigung für die kollektive Enteignung der Volksgruppe postuliert – und das zu einem Zeitpunkt, an dem sich andere ehemalige Vertreiberstaaten in der Wiedergutmachungsfrage längst nicht so hartleibig zeigen wie die Tschechische Republik, die dem politischen Hasardeur Edward Benesch Denkmäler errichtet und die mit seinem Namen verbundenen rassistischen Dekrete mit Zähen und Klauen verteidigt.

Man faßt sich an den Kopf: Für den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), traditionell der Schirmherr der Sudetendeutschen, ist der radikale Kurswechsel der SL, die an Pfingsten wieder ihren alljährlichen Sudetendeutschen Tag begeht, „wahrhaft historisch“ und „ein großer Schritt in Richtung Zukunft“. Die andere Seite zeigte sich über diese neue Art eines Wandels durch Annäherung eher amüsiert. Alles längst überfällig, wiegelt der Prager Premier Bohuslav Sobotka ab. Und der für seine wilden Sprüche bekannte Staatspräsident Milos Zeman nannte die SL einen „schlichtweg bedeutungslosen Verein, der seinen Einfluß verliert“. Man möchte wünschen, daß der Polit-Rabauke auf der Prager Burg unrecht behielte und seine Meinung nicht repräsentativ für die politische Klasse sei. Doch Zeman drückt sich nur etwas derber aus als andere Offizielle an der Moldau.

Deshalb ist die Frage nur zu berechtigt: Trägt das, was die SL als Zukunftsorientierung ausgibt und vermutlich in erster Linie der Rücksichtnahme auf bayerische ökonomische Interessen in Tschechien dient, nicht eher zu ihrer Selbstmarginalisierung bei? Früher hörte man noch auf Experten wie Professor Alfred de Zayas, lange Zeit Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses. Für die „Pragmatiker“ von heute ist der amerikanische Völkerrechtler und Historiker offenbar keine Adresse mehr. Denn de Zayas sagt, was in Berlin und München nicht gern gehört wird: Ein Verzicht auf Restitution sei nicht nur bedauerlich für die Opfer, er erweise auch dem Völkerrecht einen Bärendienst. Die schwere und anhaltende Verharmlosung der Vertreibung der Deutschen stelle eine Menschenrechtsverletzung dar, denn sie bedeute eine unzulässige Diskriminierung der Opfer. Die deutschen Heimatvertriebenen und ihre Nachkommen dürften aber keine Opfer zweiter Klasse sein.

Interessieren solche fundierten Mahnungen die „Reformer“ in den Vertriebenenverbänden noch? Jahrzehntelang haben sich BdV und Landsmannschaften gegen eine Schlußstrich-Politik verwahrt. Ist das Schnee von gestern? Ihr aktuelles Verhalten kommt der „Alles darf vergessen werden“-Mentalität jedenfalls sehr nahe. Nun gut, die SL tritt auch nach ihrer umstrittenen Satzungsänderung dafür ein, daß Völkermord, Vertreibungen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit „weltweit zu ächten und dort, wo sie erfolgten, auf der Grundlage eines gerechten Ausgleichs zu heilen sind“.

Diese Forderung ist allerdings so allgemein, in Watte gepackt, daß sich Prag nicht direkt angesprochen fühlt. 2015 gedenkt die zivilisierte Welt des Beginns des Völkermords an den Armeniern vor 100 Jahren. Fällt nicht auch die Vertreibung der Sudetendeutschen mit all den bestialischen Begleitumständen, den Massakern und Todesmärschen, unter den Völkermord-Begriff, weil von langer Hand geplant, mit dem Willen, eine Volksgruppe auf ihrem angestammten Boden zu zerstören?

Diese Frage hat zum Beispiel der Wiener Völkerrechtler Felix Ermacora in einem Gutachten für die bayerische Staatsregierung bejaht. Noch 70 Jahre nach dem Beginn der Vertreibung drückt sich die deutsche Politik um eine klare Positionierung herum. Dabei könnte die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern eine fundierte Debatte über das, was zum Beispiel in Prag vernebelnd „Transfer“ beziehungsweise „Abschub“ genannt wird, befördern. Wenn man nur wollte! Aber danach sieht es nicht aus. Leider.