© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Die importierte Epidemie
Gesundheitspolitik: Die Masernwelle in Berlin wirft ein Schlaglicht auf die Probleme bei der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern
Felix Lehmann

In Berlin grassieren die Masern. Jede Woche stecken sich bis zu 30 Menschen mit der gefährlichen Krankheit an, die zu schweren Komplikationen bis hin zum Tod führen kann. Seit Ausbruch der Epidemie im November haben sich 1.200 Menschen in der Hauptstadt infiziert, davon allein 1.000 in den ersten Monaten dieses Jahres. Zum Vergleich: 2014 registrierten die Behörden im gleichen Zeitraum neun Neuinfektionen. Ärzte und Apotheker befürchten mittlerweile, daß der Impfstoff mancherorts knapp werden könnte. Vergangene Woche gaben die Behörden erstmals vorsichtige Entwarnung. Die Zahl der neu gemeldeten Fälle sinkt. „Der Rückgang an Neuinfektionen ist erfreulich, die Masernwelle ist aber noch nicht vorbei“, warnte Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales im Tagesspiegel.

Ausgangspunkt der Infektionswelle, die zunehmend auch nach Sachsen und Thüringen übergreift, war offenbar eine Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Dort war die hochansteckende Viruserkrankung, die sich beim Sprechen, Husten oder Niesen verbreitet, vor allem unter jungen Asylbewerbern und in Roma-Familien ausgebrochen. Oft reicht schon ein einmaliger Körperkontakt, um die Krankheit zu übertragen. 95 Prozent der Menschen, die mit dem Erreger in Kontakt getreten sind, erkranken anschließend auch. Aufgrund des hohen Infektionsrisikos kam es in Berlin wiederholt zur Schließung von Erstaufnahmeeinrichtungen. Vor allem Asylbewerber aus den Balkanländern sind nicht ausreichend gegen Infektionskrankheiten geimpft. Nach den Balkankriegen ist die medizinische Infrastruktur mancherorts zusammengebrochen, und das System der Schutzimpfungen hatte erhebliche Lücken bekommen.

Wie auf einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, waren bei Ausbruch der Masernwelle in Berlin 87 Prozent der Betroffenen nicht geimpft. Laut dem epidemiologischen Wochenbericht des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales machen Asylbewerber etwa 15 Prozent der von der aktuellen Epidemie betroffenen Personen aus.

Da ist es nicht überraschend, daß auf dem Balkan seit einem Jahr ebenfalls eine Epidemie tobt. Auch in Bürgerkriegsländern des Nahen Ostens wie Syrien, Libyen oder dem Irak ist die Gesundheitsversorgung praktisch zum Erliegen gekommen. Zwangsläufig stellt sich für die Behörden damit zunehmend die Frage nach der medizinischen Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen, die in Deutschland Asyl beantragt haben.

Die Ursachen für die Häufung von Infektionskrankheiten unter Asylbewerbern liegen nach Ansicht von Experten auch in der medizinischen Versorgung in Deutschland begründet. Die ärztliche Versorgung von Asylsuchenden ist nicht einheitlich geregelt. Vollständigen Anspruch auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung, wie er beispielsweise auch ALG-II-Empfängern offensteht, haben nur anerkannte Flüchtlinge. Geduldete oder Asylbewerber, über deren Antrag noch nicht entschieden wurde, dürfen lediglich bei „akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen“ zum Arzt gehen. Weitergehende Untersuchungen oder gar Vorsorgeuntersuchungen müssen einzeln vom Sozialamt genehmigt werden. Welche Behandlungen darunter fallen, liegt im Ermessen des zuständigen Sozialamtes. Da kann es passieren, daß ein medizinisch nicht geschulter Mitarbeiter über die Notwendigkeit von Behandlungen zu entscheiden hat und schwere Infektionskrankheiten einfach übersehen werden.

Schwierige Situation

für illegale Ausländer

Sachsen-Anhalts Integrationsbeauftragte Susi Möbbeck weist auf die Risiken hin, wenn Sozialämter falsch entscheiden. Sie fordert, den Zugang zu medizinischer Versorgung zumindest zu beschleunigen. „Das ginge zum Beispiel, indem man dafür sorgt, daß Flüchtlinge nach einem Jahr aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in die reguläre Versicherungsstruktur übergehen“, schlug sie im MDR vor. Noch schwieriger stellt sich die Situation für illegale Ausländer dar. Oft sind ehrenamtliche Initiativen von Ärzten die einzige Möglichkeit für diese Personengruppe, überhaupt Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten.

Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales plant bis zum Sommer die Einrichtung einer zentralen Impfstelle, um die Zahl der Neuinfektionen zu verringern. Denn auch viele einheimische Berliner sind nicht mehr ausreichend gegen Masern geimpft, sei es nun aus Gleichgültigkeit oder aufgrund der immer populärer werdenden „Impfskepsis“. Die Probleme in Berlin sind also zum Teil auch hausgemacht.

Foto: Asylbewerber vor der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin: Impfsystem zusammengebrochen