© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Rote Fahnen sollen die Mönche erziehen
Tibet: Vor 20 Jahren wurde der Panchen Lama von chinesischen Sicherheitskräften entführt / Protest nur im Exil
Marc Zoellner

Seit zwanzig Jahren gilt Gedhun Choekyi Nyima nun schon als vermißt. Am 17. Mai 1995 war es, als in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Vertreter des Innenministeriums sowie Sondereinheiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee das Wohnzelt seiner Eltern im tibetischen Hochland stürmten, die Familie in Lastwagen pferchte und sie zwang, ihre Heimatprovinz zu verlassen. Gerade erst sechs Jahre zählte Gedhun am Tag seiner Verschleppung.

Gedhun ist kein gewöhnliches Kind. Seine Identität ist eines der größten Staatsgeheimnisse der anderthalb Milliarden Einwohner zählenden kommunistischen Diktatur im Herzen Ostasiens. Denn Gedhun ist kein Geringerer als der rechtmäßige Panchen Lama, das spirituelle Oberhaupt der buddhistischen Völker Tibets und noch vor dem Dalai Lama ihre ranghöchste religiöse Institution.

China verurteilt

Kooperation mit Dalai Lama

Die tibetische Tradition des Panchen Lama reicht zurück bis in das späte siebzehnte Jahrhundert und ist eng verknüpft mit dem vom ersten Dalai Lama 1447 gegründeten Kloster von Trashilhünpo, dem wichtigsten Wallfahrtsort Tibets in den Bergen der Stadt Shigatse an der Grenze zu Nepal. In Trashilhünpo erfuhren seitdem sämtliche folgenden Dalai Lama ihre Mönchsweihe. Als Lobsang Gyeltshen, der Lehrmeister des fünften Dalai Lama, 1662 im Alter von 92 Jahren verstarb, verlieh letzterer seinem Mentor aufgrund dessen Lebensweisheit postum den Titel des Panchen Lama, des „großen Lehrers“, welcher fortan sämtlichen Amtsinhabern Lobsangs vorbehalten sein sollte.

Gedhun Nyima sollte der elfte Panchen Lama dieser Abstammungslinie werden. Doch schon seine Wahl gestaltete sich als heikler politischer Thriller.Bereits Gedhuns Vorgänger Chökyi Gyeltshen hatte kein leichtes Amt zu verwalten. Im Alter von elf wurde dieser 1949 zum zehnten Panchen ernannt.

Als die rotchinesische Armee zehn Jahre später in Tibet einmarschierte und der Dalai Lama nach Indien fliehen mußte, versuchte Chökyi sich zuerst in der friedlichen Aussöhnung mit der chinesischen Regierung unter Mao Tse-tung. Doch schon 1964 wurde er nach Peking verschleppt und unter Hausarrest gestellt. Neun Jahre saß er im Hochsicherheitstrakt eines Zuchthauses ein. Erst 1989 durfte er in seine tibetische Heimat zurückkehren, wo er vier Tage nach seiner Ankunft und der öffentlichen Fundamentalkritik an der Zerstörung der tibetischen Kultur plötzlich und unerwartet verstarb. Offiziell sprachen die chinesischen Behörden von einem Herzinfarkt. In Tibet hingegen ist man sich sicher: Chökyi wurde vergiftet.

Auf die gleiche Art sollte vor vier Jahren auch Chadrel Rinpoche dahinscheiden. Der Abt des Klosters Trashilhünpo zeigte sich verantwortlich für die Auswahl Gedhuns als elftem Panchen Lama. Weil er in seiner Entscheidungsfindung eng mit dem im Exil lebenden Dalai Lama kooperierte, hatte Chadrel eine fünfjährige Gefängnisstrafe im zentralchinesischen Sichuan zu verbüßen.

Buddhismus soll sich dem Sozialismus unterwerfen

Anfragen von Menschenrechtsorganisationen sowie die sporadisch erfolgenden Forderungen des Menschenrechsrats der Vereinten Nationen nach einer unabhängigen Visite Gedhuns ignoriert die chinesische Regierung seit 1995 konsequent. Gedhun sei ein „ganz normaler tibetischer Junge von exzellenter Gesundheit“, ließ Peking zuletzt 2007 verlauten. „Er mag die chinesische Kultur und hat kürzlich einen Kurs in Kalligraphie belegt.“ Auch seine Eltern seien seit langem im Staatsdienst untergebracht. Der offizielle Status Gedhuns sei der eines Schutzhäftlings.

Mit dem 1990 geborenen Gyeltshen Norbu hatte Peking überdies bereits im November 1995, nur sechs Monate nach der Entführung Gedhuns, einen linientreuen Gegenlama installiert, welcher in Tibets religiösen Gemeinden jedoch keinerlei Autorität hat. Auch den nächsten Dalai Lama wolle China selbst ernennen, heißt es aus Peking, da der gegenwärtige Dalai Lama seine Wiedergeburt aus Protest gegen die chinesische Besetzung Tibets verweigert.

Auch den zwanzigsten Jahrestag der Entführung zelebriert China auf markante Weise: Seit April dieses Jahres sind sämtliche Klöster Tibets verpflichtet, die rote Flagge Chinas auf ihren Dächern gehißt zu halten sowie in ihren Leseräumen die Zeitungen der Staatsmedien auszulegen. „Laßt die breiten Massen der tibetischen Mönche und Nonnen ihren Patriotismus sowie den Gehorsam vor dem Gesetz bewußt werden“, begründete Chen Quanguo, der Vorsitzende der KP Tibets, diesen Schritt. „Lehrt sie die Anpassung des tibetischen Buddhismus an die sozialistische Gesellschaft.“