© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Pankraz,
Irenäus von Lyon und der gnädige Prophet

Das diesjährige christliche Pfingstfest wird, zumindest bei den Protestanten, überschattet vom sogenannten Testamentenstreit (JF 21/15). Der reicht entschieden tiefer als das bereits seit längerem von der EKD systematisch betriebene Herumredigieren in überkommenen Bibeltexten, wo es „nur“ darum geht, alle angeblich „antifeministischen“, „antisemitischen“ und „antihomosexuellen“ Stellen wegzustreichen oder so umzuformulieren, daß sie dem „gewandelten Zeitgeist“ entsprechen und bei den modernen Gläubigen keine „Irritationen“ mehr auslösen.

Im Vergleich zu solchem Treiben geht es diesmal beim Testamentenstreit um hochgelehrte, weit in die Historie hineingreifende Dinge, nämlich um die diversen Bibeltexte im ganzen und ob viele von ihnen überhaupt in das „heilige“, kanonische Buch der Christenheit hineingehören oder ob sie die Botschaft nicht vielmehr verfälschen. Der Frontverlauf lautet: „Altes contra Neues Testament“.

Das Alte Testament, sagen viele Theologen und Religionshistoriker, die Geschichten über den Einen Gott, die Weltschöpfung, die Arche Noah, den Turmbau zu Babel, die Aufrichtung der zehn Moralgebote – all das habe nichts zu tun mit der Christenlehre im eigentlichen Sinne, der Lehre von der Gottessohnschaft Jesu, seinem Opfergang, seiner Gnadenbotschaft von der Vergebung aller Sünden und der letztendlichen Erlösung jeder leidenden Kreatur in seinem Zeichen. Ob Weltschöpfung und Welterlösung zusammenpassen – darüber also streitet man sich erbittert an den theologischen Fakultäten des Jahres 2015!

Es ist dies aber, wie gesagt, ein uralter Gelehrtenstreit, der bis in die Tage der frühchristlichen Kirchenväter und der sogenannten Gnostiker im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. zurückreicht. Die wildesten Haßausbrüche gegen den Schöpfergott waren zu dieser Zeit zu registrieren: er sei, hieß es, der wahre Teufel. Die Welt, so wie sie ist, diese Welt des ewigen Fressens und Gefressenwerdens, sei in Wahrheit eine Ausgeburt des Teufels, und Christus, ob nun Gottes Sohn oder „echter Menschensohn“, sei gekommen, um diese Teufelswelt kaputtzuschlagen und uns von ihr zu erlösen.

Kirchenväter wie der heilige Irenäus, Bischof von Lyon (135–200), mußten damals kommen, um für Ordnung zu sorgen und das rechte Maß herzustellen. So entstand überhaupt erst systematische Theologie. Irenäus war es, der als erster von den „regulae fidei“, den Regeln des Glaubens sprach, welche in kanonischen Büchern zusammengefaßt werden sollten, damit die Prediger sich orientieren konnten und nicht in reines Schwafeln verfielen.

Redaktionen zur Zusammenstellung und Betreuung solcher „heiliger“, kanonischer Bücher fanden sich unter des Irenäus Anleitung zusammen, und in deren Fokus lagen – „natürlich“, ist Pankraz versucht zu sagen – nicht nur die Evangelien der Apostel, sondern auch die machtvollen alten Erzählungen des Vorderen Orients über den Einen Gott und seine Weltschöpfung. Auch diese alten Narrative hatten ja schon von einer Ergänzung der Schöpfung durch die Ankunft eines „Messias“ gesprochen, der die in der realen Welt notwendig herrschenden Widersprüche für Geist und Herz erträglich und einsehbar machen sollte.

Nie wäre es Irenäus und seinen Redakteuren freilich in den Sinn gekommen, die von ihnen arrangierten Texte als unmittelbar dem Munde Gottes entsprungen und somit als völlig unantastbar hinzustellen. Sie wurden ja sichtbarlich von identifizierbaren „Normalmenschen“ aufgeschrieben und zusammengestellt, und im Laufe der Zeiten wurden sie oft auch tiefgreifend redigiert. Falls man es für notwendig hielt, wurde ein Konzil einberufen, und in freier Diskussion wurden die Klingen gekreuzt.

Wie unantastbar sind heilige Bücher eigentlich? Kann es überhaupt heilige, unantastbare Sprachtexte geben? Fließt die Heiligkeit nicht vielmehr aus dem Bild, aus dem Zeichen, dem Symbol, das tausendfältig auslegbar ist und trotzdem und gerade deshalb Unangreifbarkeit und Respekt gewinnt? Pankraz vermutet, daß religiöse Texte, um Heilsstatus oder auch nur Faszination zu erringen, immer poetische, bildhafte, ästhetisch belangvolle Texte sein müssen. Die Faszination rührt aus dem Geheimnis, das sie um sich verbreiten.

Heilige Texte, so lernen wir just in diesen Tagen am Schicksal des Korans, sollten sich nicht allzu dringlich und ausführlich in konkrete Dinge des tagtäglichen Lebens einmischen. Heiligkeit und Hopsasa passen nicht zueinander. Jedes gute Leben ist wohl transzendent inspiriert, es braucht jedoch irgendwo auch einen gewissen Auslauf, einen Freiraum, in dem sich Zufall und historischer wie geographischer Einfluß bemerkbar machen können. Giorgio Agamben hat es kürzlich auf den Begriff gebracht: „Heiliges kann nur Bestand haben, wenn man es streckenweise ignoriert.“

Mit Sicherheit und ganz besonders gilt das, wenn es um existentielle Grenzentscheidungen, um Tod oder Leben geht. Mohammed, der Prophet, mag im Koran tatsächlich dazu aufrufen, Ungläubige oder Glaubensverräter zu töten, aber zwischen heiligem Wort und realer Tat liegen eben Abgründe. Das Töten, das Schlachten und Abwürgen liegen derart quer zu jeder Vorstellung von Heiligkeit, daß sie selbst im Status des Opferdarbringens abstoßend wirken, weshalb ja auch die Opferzeremonien in den Gottesdiensten im Laufe der Zeiten immer mehr ins rein Symbolische rückten und nur noch „gespielt“ wurden.

Genau dies macht die Originalität und Attraktion des Christentums aus: Gott selbst opfert sich, jedenfalls sein bestes Teil, seinen Sohn, um das Opfer aus der Welt zu schaffen. Der Gnadenerweis tritt an die Stelle des Opferbegehrens. Dergleichen spiegelt sich auch im Islam, in dessen Hierarchie Jesus Christus bekanntlich einen privilegierten Platz behauptet: Allah, der Allmächtige, begehrt in den Anrufungen nur noch einen einzigen weiteren Titel: der Allgütige, der Allbarmherzige. Er ist ein gnädiger Gott, und Mohammed ist sein Prophet.