© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Von der Tragödie des eigenen Lebens berichten
Schauspieler, die sich selbst spielen: Das Kammerstück „The Dark Ages“ des Schweizer Regisseurs Milo Rau am Residenztheater München
Sebastian Hennig

Nach „The Civil Wars“ im August vorigen Jahres in Zürich gelangte am 11. April mit „The Dark Ages“ der zweite Teil der Europa-Trilogie des Schweizer Regisseurs Milo Rau in München zur Uraufführung. Im Marstall des Residenztheaters näherten sich fünf Darsteller vor dem Hintergrund eigenen Erleidens und Erlebens der Beantwortung der Frage: „Was geschieht mit Menschen, wenn ihre Überzeugungen und Staaten zerbrechen? Auf welches Fundament ist Europa gebaut?“

Auf der Bühne stand zunächst eine Tribüne, auf deren Brüstung ein Blumengebinde abgelegt war. Dann drehte sich der Kasten und auf seiner Rückseite bot sich ein kleiner Büroraum dem Publikum dar. Als Inhaber und Gastgeber stellt sich der muslimische Bosniake Sudbin Music vor. Er arbeitet für eine Vereinigung, welche die Überlebenden der Massaker des Bosnienkriegs vertritt. Der Aschenbecher im Büro des Nichtrauchers ist für die Besucher, die sich oft erst eine anstecken, bevor sie etwas sagen über Unsägliches.

Es gibt keine

Hierarchie des Todes

Vier Schauspieler sind bei ihm, die aus Deutschland, Rußland, Bosnien-Herzegowina und Serbien stammen. Alle fünf berichten im Wechsel und oft in unvermitteltem Übergang von ihren konkreten Erfahrungen und Empfindungen beim Zerfall ihrer Welt. Eine der vier Personen filmt im Wechsel mit einer außerhalb postierten Kamera das Gesicht des jeweils Sprechenden. Gelegentlich kommt auch ein Fundstück in den Fokus, welches vor die Kamera gehalten wird. Die Filmbilder erscheinen simultan auf einer Fläche oberhalb der Szene. Dabei ist bemerkenswert, wie sehr der Eindruck der abgefilmten Gesichter von der Attitüde auf der Bühne abweicht. Diese Köpfe ohne Leib und ohne Raum erwecken den Eindruck von Amputationen. Gerade die Nahaufnahme schafft größte Distanz. Im geschlossenen Raum dagegen ist Offenheit. Haftmikrofone ermöglichen den Sprechern, leise und betont unaufgeregt zu berichten.

Als klassischer Fünfakter ist „The Dark Ages“ gegliedert. Doch tragische Handlung verläuft ganz undramatisch. Auch das Deklamatorische des Schauspielers gehört zur Natürlichkeit der Figuren. Hier verkörpert nicht der Schauspieler eine Rolle, sondern die Rolle offenbart sich in einem Menschen, der den Beruf des Schauspielers ausübt. Sudbin Music ist als Journalist und Menschenrechtler mit den Taktiken medialer Vermittlung ebenfalls vertraut.

Milo Rau läßt geschehen, und sein Stück wird damit zum Stück seiner Darsteller. Sie berichten von der Tragödie des eigenen Lebens. Dabei gibt es keine Hierarchie des Todes. Das Sterben der Eltern und die Verfeindung der Geschwister in der Familie von Manfred Zapatka ist gleich grausig wie die Ermordung des Vaters von Sudbin Music durch serbische Freischärler und seine eigene Deportation in ein Lager. Jahre später läßt er die Leiche seines Vaters aus dem Dorfbrunnen bergen und hält in der Pathologie den Schädel des Vaters in den Händen. Die letzten Worte der alten Frau Zapatka auf dem Totenbett lauten: „Ich will nicht mehr zum Anwalt.“

Der Achtundsechziger Zapatka beschreibt seine Eltern als Fünfundvierziger. Zweimal ausgebombt und vaterlos ist die Familie der Feindseligkeit ihrer aufgenötigten Gastgeber ausgeliefert. Die Berichte aus den dunklen Jahren geben den dunkelsten Ahnungen traurige Gewißheit. Die in Kasan an der Wolga geborene Valery Tscheplanowa berichtet von der Verwüstung ihrer Familie durch die Perestroika. Die serbische Schauspielerin Sanja Mitrovic wird in Belgrad Zeuge des Sturzes der Milosevic-Regierung, der Brandschatzung und Plünderung des Parlamentsgebäudes: „Das ist also die Demokratie.“

Auf der anderen Seite der Kampflinie resümiert Vedrana Seksan aus Sarajevo: „Ich hatte die beste Zeit während des Nato-Bombardements.“ In Hunger, Dunkelheit und unter Beschuß fanden Konzerte und Theateraufführungen statt. Die Allgegenwart des Todes ließ das Leben zum Fest werden. Sarkastisch gerät auch ihre Erzählung von der späteren Nachstellung der nationalsozialistischen Judendeportation als Schülerin in London. Ganz nebenbei wird die abgründige Verlogenheit vorgeführt. Vedrana Seksans letzte Worte im Stück lauten: „Ich scheiße auf das neue Europa.“

Die Gruppe Laibach liefert

musikalische Zwischenspiele

Die slowenische Gruppe Laibach ist bekannt für ihr unbarmherziges geschichtspolitisches Maskenspiel. Damit lieferte sie seit dem Todesjahr des Marschalls Tito die gespenstische Begleitmusik zum Zerfall Jugoslawiens. Zugleich raunt ihre Musik das Schicksal eines ganzen Kontinents, der sich mit der Lebenslüge der Verwestlichung und mittels der Barbarisierung des Ostens aus der Geschichte zu verabschieden strebt. Diesmal beschränkt sich Laibachs Beitrag darauf, in musikalischen Zwischenspielen die poetische Melancholie der Erzähler zu unterstreichen.

Dem auf die Premiere folgenden Konzert der Gruppe im großen Saal des Residenztheaters wurde eine Proklamation vorangestellt, wie sie in ähnlicher Weise zu Konzerten während des Balkankriegs in Belgrad und Ljubljana und auf der „Divided States of America“-Tour nach dem 11. September 2001 in den USA geschah. In einer Filmaufnahme appellieren die fünf Schauspieler in Kostümen der Shakespeare-Zeit in ihrer jeweiligen Muttersprache an „Deutsche! Europäer!“ Es ist die gewohnte Tour de force, mit der Laibach und die Neue Slowenische Kunst die repressive Toleranz und den Totalitarismus der Weltoffenheit widerspiegeln: „Europa muß deutsch sein, oder es wird nicht sein. (…) Denn um ein gesundes Leben zu haben, muß die Ordnung der Geschichte so hart sein, wie die Ordnung der Weltwirtschaft. (…) Das Übernationale ist das Europäische“, heißt es darin.

Die Forderungen gipfeln in der Proklamation eines „Marshallplans der Seele“. Allen Afrikanern wird die Energiewende, ein internationaler Gerichtshof, verarbeitende Industrie und organisiertes Gedenken in Aussicht gestellt. Selten wird die Freiheit der Kunst so beim Wort genommen. Diese Agenda ist auf der Innenseite des Programmplakates abgedruckt und trägt die Typographie von Notverordnungen, wie sie Gouverneure besetzter Gebiete zu verbreiten pflegen.

Für Dezember ist die Uraufführung des letzten Teils der Trilogie „Empire“ in der Schaubühne Berlin angekündigt.

Die nächsten Vorstellungen von „The Dark Ages“ finden am 31. Mai um 19 Uhr und am 1. Juni um 20 Uhr im Marstall in München, Marstallplatz 4, statt. Kartentelefon: 089 / 21 85 19 40

www.residenztheater.de