© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Pankraz,
der Rentner und die systemkonforme Wut

Früher, als Bonn noch Regierungssitz war, sprach man in etablierten Kreisen, wenn man politische Kräfte meinte, die nicht im Bundestag saßen, von „außerparlamentarischer Opposition“. Das war ziemlich korrekt und ziemlich fair. Heute in Berlin spricht man nur noch vom „rechten Rand“, und das ist weder fair noch korrekt, besonders seitdem dieser Rand immer dicker und vielfarbiger wird und seine Wurzeln tief in die politische Mitte hineinreichen. Auch der herrschende politisch-mediale Komplex spürt das. So versucht er, seinen Jargon wohl oder übel etwas auszudifferenzieren.

Er spricht von „Populisten“, „Wutbürgern“, „Rechtskonservativen“, „Pegida-Leuten“, Islamophoben“, „Fremdenfeinden“ … Der FAZ-Korrespondent Volker Zastrow hat die Palette soeben um eine bemerkenswerte Wendung bereichert: Er spricht von „Wutrentnern“. All diese Leute vom rechten Rand, so schreibt er, brüllten zwar mit geschwollener Halsschlagader auf der politischen Szene herum, aber es seien gar keine richtigen, eventuell ernstzunehmenden Wutbürger, es seien vielmehr bloße „Wutrentner“. Sie gehörten nicht in die Politik, sondern unter psychiatrische Betreuung.

Wissenschaftliche Studien, so erfahren wir bei Zastrow, hätten erbracht, daß die allermeisten dieser neuartigen Wutbürger zwischen fünfundsechzig und fünfundsiebzig Jahre alt seien, sie hätten also nie einen Krieg richtig mitbekommen, hätten nicht einmal Wehrdienst leisten müssen, es seien „weiße Jahrgänge“, ausgesprochene Wohlstandskinder, welche nun auf ihre alten Tage der Hafer steche, wie man so sagt. Sie fühlten sich zu früh in Rente geschickt, sie wollten weiter mitreden, doch niemand höre mehr auf sie. Das mache sie wütend und treibe sie an den rechten Rand. Vorsicht also vor Wutrentnern!


Volker Zastrow hat zwar das Wort „Wutrentner“ kreiert, steht aber mit seinen Befunden keineswegs allein. Da gibt es zum Beispiel den in Köln geborenen, 1995 in die Schweiz ausgewanderten Psychiater Frank Urbaniok (52), der an der Universität Zürich über die „Pathologien im Alltag“ forscht und sich dabei als nicht weniger sprachmächtig erwiesen hat als Zastrow. Von ihm stammt das Wort von den „systemkonformen Aggressionen“ und von der „Dauerwut“, die immer größer werde und inzwischen schon den Alltag jedes Menschen akut bedrohe.

Zitat Urbaniok, aus einem kürzlichen Vortrag in Zürich:  „Immer mehr Menschen stehen gewissermaßen ständig unter Strom und regen sich über alles auf: den Staat, die EU, die Justiz, die Behörden im allgemeinen, die Politik im besonderen. Viele Medien, vor allem die Boulevardmedien, bewirtschaften diese Empörung bewußt mit ihrer Dauerpropaganda und Skandalisierung. Am meisten aber trägt die Beschimpfungswut im Internet zu der Misere bei – denken Sie nur an die Leserkommentare.“

Frank Urbaniok wird heute in der Schweiz eher den Konservativen zugezählt, von gewisser Seite sogar regelmäßig als „Hardliner“ beschimpft, obwohl er in Deutschland bevorzugter Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung war und einstmals als junger, aufstrebender Stern und Hoffnungsträger der SPD apostrophiert wurde. Sein jetziges entschiedenes Eintreten für die Etablierung eines wirksamen Präventionsschutzes vor psychisch einschlägig veranlagten Gewalttätern und seine offen bezeugte Skepsis gegenüber einer möglichen Heilung derartiger Täter sind den Linken oft Anlaß für öffentliche Attacken.

Um so bemerkenswerter das Interesse eines solchen Fachmannes für Themen wie „systemkonforme“ Dauerwut und hyperkritische Leserkommentare im Internet. Pankraz hat den Verdacht, daß da einiges durcheinander und schließlich in die falsche Richtung geht. Legt man nämlich die Sittengemälde von Urbaniok über systemkonforme Aggressionen und die von  Zastrow über ewiges, angeblich durch keine negative Eigenerfahrung rechtfertigbares Herumgemosere der Wutrentner zusammen, so ergibt sich ja ein Gesamtpanorama, das total quer zu jeder politischen Wirklichkeit steht.


Es läuft, so sehen wir da, alles bestens mit der gegenwärtigen Berliner Politik. Die teilnehmenden Hengste und Maulesel sprühen geradezu vor Rennlust, und allen voran galoppiert in furioser Pose die Stute A. M. einem glänzenden Endsieg entgegen. Nur mit dem Publikum am rechten Rand der Rennbahn hapert es beträchtlich. Es besteht durchweg aus abgetakelten Rentnern, die nicht mehr mitmachen dürfen und die in ihrer systemkonformen Dauerwut alle auf die falschen Pferde gesetzt haben und nun also auch noch empfindliche Geldverluste gewärtigen müssen. Geschieht ihnen ganz recht.

Ein Linguist vom anderen Stern freilich, der das Treiben aus gelassenem Abstand beobachtete, würde sich wohl voller Erstaunen fragen, wieso man Dauerwut und schlimme Aggression entfalten und dabei trotzdem systemkonform bleiben könne. Entweder man haßt ein System, dann hat man doch nicht die geringste Ursache zu wüten, wenn dessen Exekutoren sich extrem systemwidrig verhalten, alles falsch machen und so zum Untergang des Systems (und ihrer selbst) beitragen. Oder man liebt ein System oder hält es wenigstens für überlebensnotwendig. Dann kann man doch höchstens noch gegen falsche Exekutoren wüten!

Sowohl Urbaniok als auch Zastrow lassen erkennen, daß sie grundsätzlich sowohl für unser gegenwärtiges abendländisches, „westliches“ System sind als auch für seine gegenwärtigen Exekutoren. In ihren Augen sind allein die systemkonformen Wutrentner die Schuldigen. Das ist völlig unlogisch, völlig irre. Bei Lichte betrachtet, gehören nicht die Wutrentner, sondern ihre Kritiker in die psychiatrische Betreuung. 

Merke zumindest: Beileibe nicht jeder Rentner verbringt seine Tage mit Dauerwutanfällen. Viele gute Nachdenker der Vergangenheit sprachen sogar eindringlich von der Weisheit des Alters, die jedes gute Staatssystem in einem permanenten „Rat der Alten“ bündeln sollte, damit es blühe und gedeihe. Das ist allerdings schon recht lange her.