© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Umerzogene und Unerziehbare
Geschichtsverlust oder Traditionsbewußtsein: Europäische Union und Rußland im neuen Kalten Krieg
Klaus Hornung

Der junge Autor griechischer Abstammung widerspricht der verbreiteten westlichen These, Putin und seine Politik russischen Selbstbewußtseins trügen die Schuld am neuen Ost-West-Konflikt. Kisoudis ist der Ansicht, daß beide Seiten, die EU am Gängelband der USA und Rußland, in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend gegensätzliche Wege einschlugen. 

Die Europäische Union sieht der Verfasser in einem Prozeß der Abkopplung von ihrer historisch-politischen Tradition, des Vormarsches einer Ideologie und Praxis, die Volk, Nation und Geschichte zum alten Eisen wirft. Sie sollen ersetzt werden von einem geschichtslosen Einheitsmenschentum, durch zeitgeistkonforme, gut funktionierende Produzenten und Konsumenten in Staaten als Agenturen globaler Finanzmächte, in denen „Allianzen von Jakobinern und Chicago-Boys“ (Harald Seubert) an den Hebeln der Macht sitzen. In der EU wird das Netz von Vorschriften und Regulierungen immer dichter, nicht nur bei Glühlampen, Gebäudedämmungen und Kohlendioxid-Vorgaben, sondern bis hin zu allein verbindlichen Geschichtsurteilen – und dies alles mit Strafandrohungen bei Verstößen. Entgegen ihrem Selbstbild als „Raum der Freiheit und des Rechts“ befindet sich die EU auf dem Weg zu einem neototalitären und planwirtschaftlichen Gefüge mit einer Art Staatsideologie.

Die krisengeschüttelte EU ist Rußland nicht überlegen

Im Gegensatz dazu sieht der Verfasser das Rußland Putins geprägt von einem Willen zur Erneuerung seiner Traditionen und spirituellen Werte, bei dem Staat und orthodoxe Kirche zusammenwirken. Kisoudis bezeichnet das derzeitige russische Regime als „autoritäre Präsidialrepublik“; er blendet dabei freilich manche Züge der aktuellen Wirklichkeit Rußlands aus, wie die fortdauernde Korruption in Staat und Wirtschaft und einen nur schwach entwickelten Rechtsstaat. 

Auf wirtschaftlichem Gebiet sieht der Verfasser hingegen in Rußland mehr Freiheitlichkeit, als ihm im Westen zugeschrieben wird. Er nennt dabei eine derzeitige Staatsquote von 37,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einen einheitlichen niedrigen Einkommenssteuersatz von nur 13 Prozent, beide unterhalb der Durchschnittswerte in der Europäischen Union. Kisoudis ist jedenfalls der Überzeugung, daß die postmoderne Meltingpot-Ideologie und der Bruch der No-Bailout-Klausel des Maastricht-Vertrages zur Ursache der Währungs- und Finanzkrise der EU wurden. Der Autor vermag daher die politische und ökonomische Ordnung der EU nicht als eine Rußland überlegene politische und ökonomische Gestaltung zu erkennen.

Trotz mancher Mängel des politischen Systems Rußlands braucht es den Vergleich mit der EU nicht zu scheuen. Der Autor sieht die entscheidende Ursache des „schlechten Zustandes“ der EU im Verlust ihres „geschichtlichen Grundes“. Während Rußland sich auf die Fundamente seiner Kultur und die Werte seiner kulturellen und religiösen Überlieferung besinnt und daraus neues Selbstbewusstsein gewinnt, hat EU-Eu-ropa die Entscheidung für eine „Diktatur des Relativismus“ (Papst Benedikt XVI.) getroffen, für eine Überfülle der individuellen „Rechte“ ohne die Korrektur durch politische, religiöse, moralische und materielle „Pflichten“. 

Man braucht in der EU und zumal in Deutschland nicht lange nach den Ursachen unserer kollektiven Irrtümer und Schwächen zu suchen, etwa nach den Resultaten der Dekonstruktion unserer Schul- und Bildungspolitik mit ihrem „hochideologischen Umerziehungsprogramm für die Bürger“ (Hedwig von Beverfoerde), um zu erkennen, um was es hier geht. Kisoudis spricht von dem „Riß“, der sich seit 1968 durch die europäische und deutsche Zeitgeschichte zieht und der uns in manche Irrtümer des „Fortschritts“ geführt hat und den Weg zur Neubesinnung auf unser geschichtliches Erbe und damit zu einer tragfähigen Politik versperrt.

Dimitrios Kisoudis: Goldgrund Eurasien. Der neue Kalte Krieg und das Dritte Rom. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Waltrop & Leipzig 2015, broschiert, 120 Seiten, 14 Euro