© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Gender unterm Regenbogen
Kirchentag: Protestanten-Treffen bleibt sich in seiner säkularen Beliebigkeit treu
Christian Vollradt

Jesus würde oben bleiben“ steht auf den Aufklebern, die derzeit in Stuttgart die Runde machen. Nein, das ist nicht das Motto des 35. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der noch bis Sonntag in der Schwabenmetropole stattfindet. Vielmehr soll diese vermeintliche Gewißheit einer von Bürgern und Pfarrern organisierten Demonstration gegen den Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ am Sonnabend quasi höhere Weihen verleihen. Denn immerhin, so betonen die Protestler, sei der Widerstand gegen das Großprojekt mit ausschlaggebend für den Veranstaltungsort des größten Treffens evangelischer Laien gewesen: „Neue Formen offener und öffentlicher Debatte“ sowie „nachhaltiger Protest und zivilgesellschaftliches Engagement“ sprächen für Stuttgart, begründete das Kirchentagspräsidium 2011 seine Wahl. Daß in der Zwischenzeit ein Volksentscheid die Weichen für Stuttgart 21 stellte – geschenkt.

Etwa 100.000 Dauer- sowie bis zu 40.000 Tagesgäste werden zum protestantischen Großereignis erwartet; das erfreut nicht nur die Ausrichter, sondern auch den Einzelhandel. Und natürlich weist die Besucherliste wieder jede Menge Prominenz auf: Bundespräsident Joachim Gauck und sein Amtsvorgänger Christian Wulff ebenso wie Kanzlerin Angela Merkel und zahlreiche Mitglieder ihres Kabinetts; Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist als „Gastgeber“ sowieso gesetzt, er ist nicht der einzige Grünen-Politiker; Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi tritt auf, genauso der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan. 

Inhaltlich wird dem Kirchenvolk wieder ein bunter Strauß vorrangig säkularer Themen geboten. Allein über zwanzig Veranstaltungen widmen sich dem Modewort „Gender“, ihm ist gar ein ganzes Zentrum gewidmet. Wenn über die Frage „Wer hat Angst vor Gender“ debattiert wird, sitzen neben dem hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten Volker Jung zwar ein Travestiekünstler mit dem Pseudonym „Fräulein Wommy Wonder“ sowie die Netzfeministin Anne Wizorek („Aufschrei“), jedoch niemand, der als erwiesener Kritiker der Geschlechter-Dekonstruktion in Erscheinung getreten ist. Ähnlich beim Thema „Sexualität – lustvoll, männlich, weiblich, mehr“, wo zwar der homosexuelle Grünen-Abgeordnete Volker Beck referiert, ebenso der Sexualpädagoge Uwe Sielert, der Kritikern als Verfechter der Frühsexualisierung gilt, jedoch niemand aus den christlichen Familieninitiativen. Wie überhaupt Ehe und Familie nur am Rande vorkommen, jedenfalls kein eigenes Zentrum erhalten haben – anders als der „Regenbogen“. 

Pietisten nehmen an     Streitgespräch teil

Einen hohen Stellenwert nehmen dagegen die Fragen nach „Big Data“ oder nach dem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP ein; beliebtes Thema sind auch Flüchtlinge und Asyl, im „Zentrum Migration“ kann man am „Planspiel Willkommenskultur“ 

teilnehmen.

Weniger willkommen auf dem Protestantengipfel sind allerdings traditionell die sogenannten Messianischen Juden, also Menschen, die den jüdischen Ritus in Verbindung mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus als Messias praktizieren. Seit 1999 verweigert das Kirchentagspräsidium Gruppen die Teilnahme am „Markt der Möglichkeiten“. Begründet wird dies mit der Sorge um den jüdisch-christlichen Dialog und einer generellen Absage an judenmissionarische Intentionen: „Das Bekenntnis des christlichen Glaubens, daß Jesus für alle gestorben ist, darf nicht die Folgerung haben, Jüdinnen und Juden fehle etwas zum Heil, wenn sie dieses Bekenntnis nicht teilen“, heißt es dazu. Dagegen hatte im Vorfeld des diesjährigen Kirchentags die „Lebendige Gemeinde“ protestiert, ein theologisch-konservativer Zusammenschluß innerhalb der württembergischen Landeskirche. Da sie über einen nicht unerheblichen Einfluß innerhalb der eher basisdemokratisch zusammengesetzten württembergischen Synode (Kirchenparlament) verfügt, gab es von seiten des Kirchentagspräsidiums ein Zugeständnis: Zwar bleibt der „Markt der Möglichkeiten“ weiterhin tabu, doch nimmt am Freitag der britische Theologe und messianische Jude Richard Harvey an einem Streitgespräch zu eben dieser Kontroverse auf dem Podium Platz. 

Überhaupt ist die Tatsache, daß die gastgebende Landeskiche im „Ländle“ in Teilen traditionell pietistisch geprägt ist, an manchen Abweichungen von der Kirchentagsroutine spürbar. So veranstaltet die „Lebendige Gemeinde“ ihren von stärkerer Frömmigkeit geprägten Christustag in Verbindung mit dem Kirchentag. Und Vertreter des Pietismus sind zum Thema „Streit um die Bibel“ in den Arbeitskreisen präsent. 

„Damit wir klug werden“, ein Auszug aus dem 90. Psalm, lautet das Motto der insgesamt 2.500 Veranstaltungen; die – das gehört zur Vollständigkeit – durchaus klassisch Protestantisches bieten: Ordensgottesdienste sowie Blechbläserandachten, Bibelarbeiten und Pfadfindertreffen. Mancher wird sich fragen, wie es sein kann, daß der Kirchentag stets so quicklebendig und gut gefüllt daherkommt, während die Gemeinden oft leer und überaltert sind. Andere wieder werden sich in ihrer Einschätzung bestätigt sehen, der Kirchentag bündele das, was die Evangelische Kirche in Deutschland ausmacht, wie unter einem Brennglas: musikalisch auf hohem Niveau, politisch dem Zeitgeist unterworfen, theologisch bis zur Beliebigkeit indifferent.

Foto: Werbeplakat für den Kirchentag: Politisch dem Zeitgeist unterworfen