© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Große Erzähllust mit theatralischen Zügen
Ein Hauptwerk der deutschen Frühromanik: Die tausend Jahre alte Bernwardstür in Hildesheim zeugt von einem experimentierfreudigen künstlerischen Willen
Reinhold Böhnert

Datierte Werke der bildenden Kunst sind in der europäischen Kunstgeschichte des Mittelalters noch selten. Zu diesen Sonderfällen auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches gehört eine zweiflügelige Bronzetür in Hildesheim. Sie trägt eine lateinische Inschrift, die übersetzt lautet: Im Jahre des Herrn 1015 ließ Bischof Bernward seligen Angedenkens diese gegossenen Türflügel an der Fassade des Engelstempels zu seinem Gedächtnis aufhängen.

Die berühmte Bernwardstür erreicht also, so läßt sich verläßlich sagen, in diesen Wochen das ehrwürdige Alter von tausend Jahren. Und wir erfahren durch die Inschrift außerdem, wer sie in Auftrag gegeben hat: Bernward, Bischof von Hildesheim (993–1022), ein sächsischer Adliger, Erzieher und Berater Kaiser Ottos III. 1019 gründete er in Hildesheim das Michaelskloster, für dessen Kirche die Tür wohl bestimmt war. Seit 1030 befindet sie sich aber im Dom. Als am 22. März 1945 alliierte Bomber die gesamte Innenstadt Hildesheims in Schutt und Asche legten, war die Tür an einem sicheren Auslagerungsort untergebracht und entging so der Vernichtung.

Bernward war auch ein Kunstliebhaber. Mit seinem Namen sind eine bronzene Christussäule, ebenfalls im Dom, ein Leuchter und ein Kruzifix verbunden; letzteres soll er laut Inschrift selbst entworfen haben. Man darf vermuten, daß Bernward bei jener Bronzetür, vor allem bei ihrem ikonographischen Programm, mitwirkte und ihre sich über mehrere Jahre hinziehende Herstellung aufmerksam verfolgt hat.

Mit bronzenen Türen waren schon die großen Tempel der Antike versehen, dann auch zahlreiche Kirchen der Spätantike und des Mittelalters im Osten wie im Westen. Die Bernwardstür steht daher in einer langen Tradition. Als ihre unmittelbaren Vorläufer gelten die Tür der Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen vom Ende des 8. Jahrhunderts und die sogenannte Willigistür des Mainzer Doms vom Beginn des 11. Jahrhunderts. Doch abgesehen von zwei Löwenköpfen, welche die Türringe halten, verzichtete man in Mainz und in Aachen auf figürlichen Schmuck. Der war in Hildesheim die große Neuheit, aber auch da gab es antike Vorläufer.

Von der Erschaffung Adams bis zu Christi Himmelfahrt

Auf seiner Italienreise mit dem Kaiser im Jahr 1001 hatte Bernward in Rom gewiß S. Sabina besucht und in Erinnerung behalten, eine frühchristliche Kirche aus dem 5. Jahrhundert, deren – allerdings hölzerne – Haupttür mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament besetzt war. Bei der Hildesheimer Tür lief also Verschiedenes zusammen; nicht zu unterschätzen sind auch die Anregungen, die aus der karolingischen und der ottonischen Buchmalerei kamen.

Die fast fünf Meter hohen, zusammen etwa vier Tonnen schweren, jeweils in einem Stück gegossenen Doppelflügel untergliedern sich in zweimal acht langrechteckige Felder mit Reliefs, die schlichte Leisten trennen. Auf ihnen sieht man biblische Begebenheiten, links aus dem Alten Testament absteigend und rechts aus dem Neuen Testament aufsteigend. Sie beginnen mit der Erschaffung Adams und enden mit Christi Himmelfahrt.

Welche Szenen sich gegenüberstehen, ist aber nicht dem Zufall überlassen. Die fortlaufende Erzählung der biblischen Geschichte wird von einer typologischen Ordnung der Themen horizontal strukturiert. Sie beruht auf der Annahme, daß die Ereignisse im Alten Testament auf die des Neuen Testaments vorausweisen, zum Beispiel die Erschaffung Adams auf die Auferstehung Christi oder der Sündenfall Adams und Evas auf die Kreuzigung Christi. So entstehen acht Bilderpaare, die sich gegenseitig heilsgeschichtlich erhellen.

Diese Anordnung kann der heutige Betrachter nicht immer nachvollziehen, was aber zu verschmerzen ist. Interessanter als die theologischen Aspekte der Ikonographie sind die künstlerischen Mittel, derer sich der Meister der Bernwardstür bedient hat. Und da fällt vor allem die Betonung einzelner Figuren auf, die sich bald gebärdenreich bewegen, bald nach innen gekehrt wirken und einfach nur da sind. Sie agieren auf einer schmalen Bühne und ragen oft mit dem Oberkörper aus dem Grund heraus, als würden sie aus dem Fenster sehen. Aus einem Flachrelief wird so plötzlich ein fast vollplastisches Hochrelief. Es ist eine große Erzähllust mit theatralischen Zügen, die sich in der Bernwardstür auslebt. Ihre eigentliche Funktion als Tür tritt dabei fast in den Hintergrund, und man darf sie daher durchaus als den ersten großplastischen Bildzyklus der deutschen Kunstgeschichte bezeichnen.

Sie ist auch ein Hauptwerk der deutschen Frühromanik, die im 10. und 11. Jahrhundert eigene Wege zu gehen beginnt und sich anders als die karolingische Renaissance dabei von der Antike abwendet. Gemessen an deren Standards wirken ihre Hervorbringungen oft ungekonnt und primitiv. Auch der Bernwardstür mangelt es offenkundig an Ausgewogenheit; da gibt es, wäre kritisch anzumerken, zu viele leere Flächen, die Szenen wirken zerstreut. Und die Figuren wissen weder von Anatomie noch von Proportionen. War das tatsächlich Absicht – oder konnte es der Meister nicht besser?

Wohl beides, denn es geschieht in der Kunstgeschichte nicht selten, daß die Formentwicklung abreißt, wenn sich neue Bedürfnisse und Inhalte artikulieren wollen. Bischof Bernward und seinem Bronzewerkmeister stand der Sinn nach etwas noch nie Dagewesenem, nach einer Bronzetür mit Bildern, welche die biblischen Geschichten lebendig und anschaulich – also ganz unantikisch – erzählen sollten. Dies verlangte nach neuen Gestaltungsmitteln, bei deren Erprobung zwangsläufig formale und technische Wünsche offen blieben.

Die Bernwardstür fasziniert noch immer, auch weil sie einzigartig ist. Da war vor tausend Jahren ein experimentierfreudiger künstlerischer Wille am Werk, der sich so weit ins Unbekannte vorwagte, daß ihm vorläufig niemand folgen wollte. Eine ähnliche Formgesinnung findet man in der deutschen Kunstgeschichte erst wieder bei den Expressionisten.

Die Bronzetüren, die nach derjenigen in Hildesheim bis zum Ende der Renaissance in Italien und Deutschland noch entstehen sollten, knüpften wieder an den antiken Typus mit seiner dekorativen Rahmung der einzelnen Felder und der ganzen Tür sowie an seine einheitliche Reliefhöhe an. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Paradiesestür des Baptisteriums in Florenz.