© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

An der Wiege von Marxismus und Zionismus
Volker Weiß erinnert an den rheinischen Juden und revolutionären Sozialisten Moses Hess
Jakob Apfelböck

Das geistige Erbe der 68er ist dürftig, selbst wenn man sie gar nicht für die Grünen und die Political Correctness von heute verantwortlich machen möchte. Vor ein paar Jahren hat der Bremer Romanist Peter Bürger in einem Hörfunkessay die These in den Raum gestellt, daß dies im wesentlichen auf einen Fehlgriff in der Wahl des theoretischen Rüstzeugs zurückzuführen ist. 

Anstatt sich als radikale bürgerliche Intellektuelle zu begreifen – etwas anderes waren sie qua Bildung und sozialem Status nämlich nicht –, hätten sie sich als Avantgarde eines imaginären proletarischen Subjekts ausgegeben und, gestützt auf Lektüren von Marx und Lenin, von einer Verschärfung der Klassenkämpfe geträumt. Die Wirklichkeit der damaligen Bundesrepublik ließ sich mit derartigen Phantasmagorien aber nicht erkennen oder gar kritisieren. In ihrem Versuch, den unbegriffenen Drang nach Veränderung auf den Begriff zu bringen, hätte ihnen, so Bürger, eine Beschäftigung mit der linkshegelianischen Schule des Vormärz eine weitaus fruchtbarere Hilfestellung bieten können.

Der Schlußstein auf dem Weg von Hegel zu Marx

Diese Einschätzung wird, auch mit Blick auf eine Kritik der gegenwärtigen Bundesrepublik, teilen, wer sich auf ideengeschichtlichen Streifzügen zu den fraglichen Autoren verirrt. Das Bedürfnis, an Gewißheiten festzuhalten und nicht über eine systemimmanente Optimierung hinauszutreiben, ist aber heute trotz oder gerade wegen aller Krisensymptome zu übermächtig, um ihnen über einen kleinen Kreis wissenschaftlicher Connaisseurs hinaus Aufmerksamkeit zu verschaffen. 

Was Volker Weiß für seinen Protagonisten Moses Hess beklagt, gilt daher, mit der einen Ausnahme des Karl Marx der Frühschriften, für alle Vertreter des Linkshegelianismus gleichermaßen, mögen sie nun Bruno Bauer oder Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach oder Max Stirner geheißen haben: Sie sind – mehr oder weniger – der Vergessenheit anheimgefallen. Die Hintertür, durch die Weiß nun wenigstens Hess ins Licht rückt, führt aber zunächst nicht auf die Bühne der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit politischer Theorie, sondern in die Regionalgeschichte. Das 1815 zu Preußen geschlagene Rheinland barg aufgrund seines mehrheitlich katholischen Bekenntnisses, seines nicht zuletzt in Köln besonders selbstbewußten Bürgertums und des Nachhalls der Modernisierungsepisode unter französischer Herrschaft gleich mehrfache Konfliktlinien zur neuen Obrigkeit. 

In diesem Milieu wuchs der 1812 in Bonn geborene Moses Hess als Sohn eines später erfolgreichen jüdischen Unternehmers auf. Seine intellektuelle Unruhe äußerte sich früh in der kritischen Auseinandersetzung mit der Religion seiner Vorväter, der er jedoch nie den Rücken kehrte, um, wie Heinrich Heine es spöttisch ausdrückte, das „Entre Billet zur Europäischen Kultur“ durch die Taufe zu erwerben. Hess steht, und dies herausgearbeitet zu haben ist ein Verdienst von Weiß, für den Versuch einer jüdischen Emanzipation ohne Selbstaufgabe. 

Die Einschätzung, daß dies ein vergebliches Bemühen war, ließ ihn zum Ende seines Lebens mit seiner Schrift „Rom und Jerusalem“ zu einem Vorläufer des Zionismus werden. Inspiriert war diese Vision aber nicht nur von sozialistischem, sondern auch von romantischem Geist. Nachdem Griechenland das osmanische Joch abgeschüttelt und Italien geeint war, sei nun auch die dritte Hochkultur der mediterranen Antike an der Reihe, wieder politische Gestalt anzunehmen.

In Rhetorik und Denkstil war Hess eher durch den französischen Frühsozialismus als durch die systematische Philosophie deutscher Provenienz geprägt, was für Marx der Stein des Anstoßes für seine Bemühungen war, den einstigen Weggefährten in der Zeit der Rheinischen Zeitung an den Rand zu drängen. Die drakonische Abnabelung kann jedoch nicht über die Nähe hinwegtäuschen. Nach idealistischen und eschatologisch aufgeladenen Anfängen wandte sich Hess unter dem Einfluß von August Cieszkowski und Ludwig Feuerbach einer Philosophie der Tat zu, deren Aufgabe es sei, die Geschichte in ihrer Totalität nicht nur zu begreifen, sondern zu verwirklichen. 

Die alle Linkshegelianer bewegende Frage der Entfremdung ist für ihn nun im Kern keine religiöse oder philosophische, sondern eine ökonomische. Ihre Lösung liegt in der Überwindung von Herrschaftsverhältnissen und Klassengegensätzen. Auf dem Weg von Hegel zu Marx läßt sich Hess als Schlußstein ansehen, in dem der historische Materialismus angedeutet ist. Praxis war für ihn dabei mehr als ein Thema theoretischer Beschäftigung. Sie stand im Zentrum seiner Tätigkeit, wo immer es den ins Exil gezwungenen Revolutionär auch hin verschlagen hatte. 

Sein Geschick und sein Einfluß mögen begrenzt gewesen sein. Dennoch läßt sich seine Relevanz für die organisatorischen Anfänge des Sozialismus in Deutschland nicht abstreiten. Zum Traditionsbestand der deutschen Sozialdemokratie wird man ihn dennoch nicht zählen können. Dieser ist trotz ihrer langen Geschichte überschaubar und intellektuell dürftig.

Volker Weiß: Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist. Greven Verlag, Köln 2015, gebunden, 239 Seiten, 19,90 Euro