© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Ritalin gegen die angeborene Wildheit
Der US-Kinderpsychologe Richard Saul hält ADHS in den meisten Fällen für eine vorschnelle Diagnose
Markus Brandstetter

Das Akronym „ADHS“ steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Mit diesem Wortungetüm wird eine psychische Störung bezeichnet, die hauptsächlich bei Kindern und Jugendlichen auftritt. 

Kinder, die darunter leiden, können nicht stillsitzen und sich nicht konzentrieren, sie reden zuviel und zu schnell, hören nicht zu, unterbrechen einen die ganze Zeit, sind vergeßlich, unruhig und unausgeglichen und mit komplizierten Aufgaben schnell überfordert. Weil das in Summe Symptome sind, die Kindern und Eltern das Leben schwer machen und Jugendliche durch Prüfungen rasseln, von Schulen fliegen und Ausbildungen abbrechen lassen, werden den dergestalt Erkrankten kiloweise Tabletten der Marke Ritalin verschrieben, die sie wieder in die Spur bringen sollen.

Die Anhänger der Theorie, daß ADHS eine häufige psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen ist – angeblich sind in Deutschland sechs bis sieben Prozent aller jungen Menschen vom „Zappelphilipp-Syndrom“ betroffen –, bemühen sich nachzuweisen, daß die Symptome ihres Hauptforschungs- und Haupteinnahmegebiets schon im Struwwelpeter aus dem Jahre 1845 beschrieben wurden, aber ob das wirklich so ist, kann keiner sagen. Angeblich haben zig Psychiater und Kinderpsychologen die Symptomatik – unter anderen Namen – seit hundert Jahren beschrieben, aber den Namen ADHS gibt es erst seit 1994. Dennoch ist ADHS eine höchst reale Diagnose, die Tag für Tag viele Male gestellt wird, Kindern wie Eltern Schrecken einjagt und – wenn es dumm läuft – deren Leben auf immer verändert. 

In dieses Konglomerat aus Hektik, Sorge und Aufregung um das Wohl unserer Kinder platzt nun ein Amerikaner und sagt: ADHS existiert gar nicht, die ganze Krankheit ist erfunden, die Aufregung darüber unnötig, die Medikamente sinnlos, wenn nicht gar gefährlich, und das Ganze in Wahrheit ein großer Schwindel. Diese steile These hat aber weder ein Geisterheiler noch ein Medizinjournalist mit Biologiediplom und schon gar kein Irrer aufgestellt, sondern der amerikanische Kinderarzt und Neurologe Richard Saul. Saul betreibt seit dreißig Jahren in Chicago eine Praxis als Kinderarzt und war ärztlicher Direktor der Health Maintenance Organization in Chicago und dort auch Vorstand der Pädiatrischen Abteilung am Highland Park Hospital. 

Sauls Erklärung für den Wirbel um ADHS ist ebenso einfach wie bündig: die Gesellschaft ist schuld. Ärzte und Pharmahersteller haben ein gleichermaßen großes Interesse daran, daß – wie in manchen amerikanischen Bundesstaaten – zwanzig Prozent der Jugendlichen und fünf Prozent der Erwachsenen an einer neuen Seuche leiden, die jahrelang dauermedikamentiert werden muß. So etwas bringt den Ärzten volle Wartezimmer und den Pharmaherstellern klingende Kassen. 

Das ist die eine Seite der Medaille, sagt Saul. Die andere Seite ist die, daß die Diagnose ADHS Vorurteile vieler Menschen bestätigt und dem Weltbild breiter Schichten entgegenkommt. Das geht los mit den Eltern, aber auch viele Lehrer und Erzieher zählen dazu, die wilde, tobende, freche und unkonzentrierte Kinder, die in Haushalt, Kindergarten und Schule nicht funktionieren, nicht mögen. Das ist auch der Grund, warum bei doppelt so vielen Jungen wie Mädchen ADHS diagnostiziert und Ritalin verschrieben wird: um den Jungs ihre angeborene Wildheit auszutreiben und sie ebenso angepaßt, sanft und vernünftig wie viele Mädchen zu machen.

Oft verbirgt sich schwerere Erkrankung dahinter

ADHS, behauptet Saul, ist aber auch eine willkommene Ausrede sowohl für schlechte Ärzte, die sich nicht die Mühe machen wollen, andere Störungen zu diagnostizieren, als auch für gestreßte Eltern, die mit lauten, wilden und eben auch mal unkonzentrierten Kindern nicht klarkommen. Wenn aber nun all die Kinder, die vermeintlich ADHS haben, in Wirklichkeit daran gar nicht leiden – woran leiden sie denn dann? 

Genau das wäre eben abzuklären, sagt der Autor und verweist darauf, daß es viele andere Gründe geben könne, die die beobachteten Symptome hervorriefen: Seh-, Hör- und Schlafstörungen, Drogenmißbrauch, Depressionen und bipolare Störungen, Hochbegabung, Tourette- oder Asperger-Syndrom und sogar Schizophrenie. Eltern sollten sich nie mit der Pauschaldiagnose ADHS zufriedengeben, schreibt Saul, sondern vom Arzt immer verlangen, ihr Kind auf die vielen anderen Krankheiten, die ADHS-ähnliche Symptome erzeugten, untersuchen zu lassen, und wäre es um den Preis eines Zweitgutachtens oder eines Arztwechsels.

Soll man Richard Saul nun glauben? Oder ist das einfach nur ein effektheischender Bestseller aus den USA, der den Lesern ein X für ein U vormachen will? Ein medizinischer Laie wird das nicht beurteilen können, dennoch gibt das Buch eine Fülle von Denkanstößen, und allein der Erklärungsansatz, daß sich hinter der Diagnose ADHS in vielen Fällen eine ganz andere und oft wesentliche schwerere Erkrankung wie Asperger oder Schizophrenie verbergen könnte, ist überaus bedenkenswert. Beeindruckend ist auch, daß der Autor keineswegs nur polemisiert, sondern seine Aussagen mit einer Fülle von Beispielen aus der eigenen Praxis untermauert – Beispielen, an denen er zeigt, daß je nach Fall mit relativ einfachen Mitteln: mehr Schlaf, mehr Vitamine, mehr Eisen, mehr Zuwendung, Drogen- und Alkoholentzug, das vermeintliche ADHS geheilt werden kann. 

Fazit: ein empfehlenswertes Buch, das frische Ansätze in eine ziemlich eingefahrene Diskussion bringt. Eltern von Kindern mit ADHS werden hier keine Wunderkur und keine Patentlösungen finden, aber unkonventionelle und scharfe Einsichten sowie fundierte Kritik an einer Mode-Diagnose, die – darin sind sich heute viele Ärzte einig – viel zu häufig gestellt wird.

Richard Saul: Die ADHS-Lüge.Eine Fehldiagnose und ihre Folgen – Wie wir den Betroffenen helfen. Verlag Klett-Cotta,  Stuttgart 2015, gebunden, 317 Seiten, 19,95 Euro