© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Der Fluch der Demokratie
Türkei: Nach dem Urnengang leckt die AKP ihre Wunden und denkt an Neuwahlen
Marc Zoellner

Vieles hatte sich die seit 13 Jahren regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) für die Türkei in der kommenden Legislaturperiode bereits ausgemalt. Beachtliche Pläne zur Transformation der parlamentarischen in eine an Recep Tayyip Erdogans Herrschaft maßgeschneiderte präsidiale Demokratie geschmiedet.

Schon 2023, also zum hundertsten Geburtstag des Landes, so der Wunschgedanke der Konservativen, sollte die Türkei dastehen als eine moderne Supermacht an den Schalthebeln zwischen Abendland und der Levante, als Global Player im Spiel der Weltwirtschaftsakteure, als Mentor des islamischen Kulturkreises und Denkfabrik hochtechnologischer Alltagsprodukte. Und hinter all diesen Motoren der türkischen Überschall-Lokomotive steht Erdogan als unumschränkter, von Parlamentsweisungen befreiter Steuermann, der von seinem Multimillionenpalast aus die Geschicke und Großbaustellen der Türkei noch mindestens bis ins vierte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts leiten würde.

Einzug der Kurdenpartei vermasselt AKP-Alleingang

Doch für Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu gab es überraschenderweise keinen Grund zum feiern. Dabei lag die Wahlbeteiligung etwa so hoch wie wie vor vier Jahren. Über 86 Prozent der zur Stimmabgabe Aufgerufenen fanden sich an den Urnen ein, darunter auch ein Gros an Auslandstürken.

Einer der Gründe dafür mag sicher die in der Türkei vorherrschende Wahlpflicht sein, doch weit mehr noch trieb der Gedanke an die von Erdogan geplante Verfassungsänderung in die Kabinen. Für sein Ziel der Installierung einer Präsidialrepublik hätte dieser eine gute Zweidrittelmehrheit seiner favorisierten Partei, der AKP, benötigt. Denn bereits im Vorfeld schlossen die größten Oppositionsbewegungen, die kemalistische CHP, die nationalistische MHP sowie die als soziopolitisches Sammelbecken von liberal bis sozialistisch erstmals angetretene kurdische HDP, eine Zustimmung zur Umgestaltung der Republik kategorisch aus. Die AKP, in der Parteienlandschaft isoliert, genoß hingegen die Unterstützung der größten Medien, der Staatssender und Rundfunkanstalten, sowie der Ressourcen des Präsidenten selbst.

Das machte sich bezahlt: Von Istanbul bis Erzincan und von Trabzon bis Antalya stimmte fast das komplette Kernland für Davutoglus AKP. Doch an der erhofften Allzeitmehrheit siegten sich die Konservativen mit wehenden Fahnen vorbei. Schlimmer noch, es reicht nicht einmal mehr zur alleinigen Regierungsbildung: Die AKP verlor drei Prozent und besetzt so lediglich 258 der 550 Parlamentssitze. Auch die Kemalisten rutschten um knapp zwei Prozentpunkt auf 24 Prozent ab. Als klare Sieger gingen jedoch MHP und HDP aus der Wahl hervor. Die Nationalisten konnten sich um dreieinhalb auf knapp 15 Prozent verbessern, die Kurden die Stimmenanteile der Minderheiten des Landes mit 15 Prozent sogar mehr als verdoppeln.

Die HDP eroberte im Osten der Türkei gleich 14 Provinzen für sich. Die Kemalisten wiederum konnten sich in den Küstenregionen des Westens sowie im europäischen Teil der Türkei behaupten. Auch die rund eine Million Auslandstürken, die weltweit in 122 Botschaften und Konsulaten ihre Stimme abgeben konnten, wählten differenzierter als ihre Landsleute im anatolischen Kernland. Während sich in Deutschland, wo sich 440.000 türkische Einwanderer zur Wahl einfanden, die AKP noch vor der HDP behaupten konnte, durfte letztere Hochburgen wie Kanada, Großbritannien, Griechenland und die Ukraine für sich reklamieren. Die Kemalisten wiederum waren in Teilen Zentralasiens erfolgreich; ebenso in Rußland, China, den Vereinigten Staaten und Südafrika.

Mit Davutoglus AKP zusammenarbeiten möchte bislang jedoch keine der konkurrierenden Parteien. „Wir stehen zu unserem Wort", verkündete der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas bereits am Tag nach der Wahl. „Wir werden keine Koalition mit der AKP bilden, sondern als starke Opposition im Parlament sitzen."

Ebenso bestätigte Devlet Bahçeli, Chef der nationalistischen MHP, der Nachrichtenagentur Anadolu, seine Partei sei „bereit, als wichtige Opposition zu arbeiten". Auch eine Einbindung der Kemalisten in die Regierung dürfte sich als schwierig erweisen. Deren Vorsitzender, Kemal K?l?çdaroglu, ist derzeit in Rechtsstreitereien mit Präsident Erdogan höchstselbst verwickelt. Letzterer fordert von K?l?çdaroglu umgerechnet rund 30.000 Euro für die fälschliche Behauptung, in Ankaras Regierungssitz throne man auf goldenen Toiletten.

AKP-Parteichef Davutoglu muß sich nun beweisen

„Das parlamentarische System ist ein Fluch", trauerte der AKP-Abgeordnete Burhan Kuzu, der gleichzeitig Vorsitzender der parlamentarischen Verfassungskommission ist, über die nicht vorhandenen Variablen seiner Partei. „In der Türkei funktionierten bislang immer nur Mehrheitsregierungen; Koalitionen hingegen zerstörten alles." Kuzu zufolge – und vielen seiner Parteigenossen nicht minder – liege das einzige Heil des Landes in raschen Neuwahlen und der Hoffnung, daß bei diesen zumindest die HDP nicht mehr über die Zehnprozenthürde käme.

Einzig Erdogan scheint sich vom frappierenden Wahlergebnis der AKP unberührt zu zeigen. „Die Meinung der Nation steht über allem anderen", verkündete er und rief gleichzeitig zur Konsensfindung zwischen den Parteien auf. Präsident wolle und werde er auf jeden Fall bleiben, dessen ist er sich sicher. Für Davutoglu hingegen, findet sich nicht schnellstmöglich ein Koalitionspartner, könnte es eng werden, die politische Laufbahn noch sauber zu beenden.