© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Gegen die engstirnigen Deutschen
Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien: Seit 25 Jahren kritisiert die Einrichtung die Einwanderungs- und Integrationspolitik Deutschlands
Christian Schreiber

Geht es um die aktuellen Probleme bei der Zuwanderung kennt der Direktor des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück (IMIS) keine diplomatische Zurückhalung.

Ohne Umschweife kritisiert Andreas Pott im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) die Rolle Deutschlands als „moralisch fragwürdig" und „migrationspolitisch kurzsichtig". Pott verweist dabei auf die „zu lange Unterbringung in peripher gelegenen und unwürdigen Sammelunterkünften", auf „mißhandelnde, nicht kontrollierte Wachleute" und die „viel zu geringe finanzielle Unterstützung der besonders betroffenen Städte". Viele Beispiele zeigten, daß „Flüchtlinge anders behandelt und ausgegrenzt", zudem „nicht integriert, sondern separiert" würden. Viel zu oft würden sie „künstlich schwach gehalten, statt gestärkt zu werden".

Dabei wisse man doch: „Deutschland braucht Einwanderung." Auch sei es eine der „Binsenweisheiten der Migrationsforschung, daß sich Migranten und gerade Flüchtlinge nach besseren Lebensverhältnissen" sehnten. Dafür würden sich die „meisten" anstrengen, vieles auf sich nehmen, unterstreicht der promovierte Sozialgeograph Pott, der das IMIS seit 2009 leitet.

SPD-Politikerin dankt
für Argumentationshilfe

Das Institut ist mittlerweile zu einer bedeutenden Einrichtung der Einwanderungslobby geworden. „Unser Land war schon immer eine Einwanderungsgesellschaft", erklärt Professor Jochen Oltmer, der zum Vorstand des IMIS gehört. Auch in Zukunft werde Migration ein zentrales gesellschaftliches Thema mit hohem politischem Gewicht bleiben: „Das verdeutlichen die aktuellen Debatten über die Folgen des weiteren (regional höchst ungleich verteilten) Anwachsens der Weltbevölkerung, der Alterung der Gesellschaften des reichen ‘Nordens’ oder des Klimawandels, über gesellschaftspolitische Herausforderungen von Migration oder den Mangel an Fachkräften für zunehmend komplexere und international eng vernetzte Wissensgesellschaften", heißt es in der Selbstbeschreibung des Instituts.

Am 29. Mai feierte die Einrichtung ihr 25jähriges Bestehen. Über 300 geladene Gäste aus dem In- und Ausland gaben sich in der Aula des Schlosses von Osnabrück ein Stelldichein. Darunter die Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), die dem IMIS dafür dankte, daß die „Migrationsforschung heute große wissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit" erhalte. Gerade ihr als „Migrationspolitikerin" lieferten die „Osnabrücker Wissenschaftler Daten und Fakten, mit denen sie ihre Argumente belegen könne. Dank des IMIS sei es heute auch „nicht mehr so leicht, auf dem Rücken von Einwanderern oder Eingewanderten ‘erfolgreich’ Wahlkampf" zu machen. Zudem gingen vom IMIS „regelmäßig Weckrufe aus, die festgefahrene politische Debatten wieder belebten und die Menschen aufrüttelten", zitiert die NOZ die Staatsministerin. Auch Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) fand lobende Worte: „Das Institut leistet einen Beitrag für das friedliche Zusammenleben der Menschen", so die Politikerin.

Alles begann, als der Historiker Klaus Jürgen Bade 1982 den Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück besetzte. Der Soziologe Robert Hepp machte seinerzeit an der Pädagogischen Hochschule in Vechta, damals eine Dependance der Osnabrücker Uni, gerade mit Thesen über „das deutsche Volk in der Todesspirale" von sich reden, in der er in Anbetracht demographischer Parameter eine Beschränkung des Ausländerzuzugs forderte.

Bade setzte Kontrapunkte und gründete am 28. Juni 1989 an der Universität Osnabrück den „Arbeitskreis Migrationsforschung und Interkulturelle Studien". Ziel, so das IMIS, sei es gewesen, die „auch in der Bundesrepublik expandierende historisch-sozialwissenschaftliche Migrationsforschung interdisziplinär einzubetten und überregional zu organisieren". Am 5. Juni 1991 wurde das IMIS schließlich durch Erlaß des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur eingerichtet und am 29. November mit einem Festakt offiziell eröffnet.

Von 1991 bis 1997 sowie zwischen 2002 und 2005 führte der mit dem Ehrenpreis der Türkischen Gemeinde Deutschlands ausgezeichnte Bade nicht nur das IMIS, sondern meldete sich als Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration – dem „Politbüro der deutschen Migrationspolitik", so die Soziologin Necla Kelek im Mai 2011 in der FAZ – immer wieder zu Wort, um Deutschlands Status als Einwanderungsland in den „Köpfen der Politiker zu festigen" (JF 21/11).

Bade war 1994 Herausgeber des „Manifestes der 60: Deutschland und die Einwanderung". 60 Professoren hatten hier dazu aufgerufen, an die „Stelle der prekären Mischung von Improvisation und Sozialreparatur endlich umfassende und integrale gesellschaftspolitische Gestaltungskonzepte für die Problemfelder von Zuwanderung und Eingliederung treten zu lassen".

Vor allem in den Anfangsjahren wurde das IMIS vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und der Freudenberg Stiftung, die seit 1984 die „gesellschaftliche Ausgrenzung und versagte Anerkennung von Einwandererkindern" kritisiert und sich entprechend für deren Integration einsetzt.

Forderung nach der wahren Willkommenskultur

Eine besondere Rolle bei der Etablierung des Instituts spielte die Volkswagen-Stiftung. Bade fungierte hier nach eigenen Angaben zwischen 1993 und 2001 als Wissenschaftlicher Beirat der Forschungsschwerpunkte „Das Fremde und das Eigene" sowie „Die Konstruktion des Fremden". In der Folge saß er zwischen 2002 und 2012 im Kuratorium der Siftung.

Im Dezember 2001 bewilligte die Volkswagenstiftung der Uni Osna-brück knapp 500.000 Euro zur Startfinanzierung einer Stiftungsprofessur für „Migrationsforschung". Sie wurde am IMIS eingerichtet und spielte nicht nur in den bestehenden Studiengängen „Social Studies" und „European Studies", sondern auch in dem geplanten Master-Programm eine zentrale Rolle.

Auch in den Folgejahren förderte die Volkswagenstiftung das IMIS und seine Arbeit am „Interkulturellen Dialog". Mittlerweile erfolgt die Finanzierung zum größten Teil aus Landesmitteln.

Eigenen Angaben zufolge hatte die anfängliche Bereitschaft, das IMIS zu unterstützen, „sicher auch mit den konfliktreichen Zeitumständen zu tun. Im Hintergrund standen die Asylhysterie, die Exzesse auf Deutschlands Straßen 1992/93 und das, was Bundeskanzler Helmut Kohl im November 1992 als ‘Staatsnotstand’ in Migrationsfragen bezeichnete." Angesichts dieser „dramatischen gesellschaftlichen Kulisse" habe sich das Institut „sofort und nachdrücklich mit Publikationen, Vorträgen und anderen Initiativen in die öffentliche Diskussion eingeschaltet".

Seitdem lassen die IMIS-Forscher keine Gelegenheit aus, der deutschen, wie europäischen Flüchtlingspolitik Beine zu machen. Immer wieder werde an Einzelproblemen herumgedoktert, anstatt endlich grundsätzlich ein neues Asyl- und Einwanderungssystem zu entwickeln, erklärte der Osnabrücker Uni-Professor Jochen Oltmer dem Evangelischen Pressedienst: „Die Diskussion über zunehmende Flüchtlingsströme von wo auch immer läuft seit mehr als zwei Jahren." Dennoch bleibe es bei Adhoc-Maßnahmen, es werde stets am offenen Herzen operiert.

Oltmer gehört sowohl zum IMIS-Vorstand als auch zum Netzwerk Flüchtlingsforschung, welches von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt wird. Dabei handelt es sich um „ein multidisziplinäres Netzwerk von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Deutschland", die zu Zwangsmigration, Flucht und Asyl forschen, sowie internationaler Wissenschaftler die diese Themen mit Bezug zu Deutschland untersuchen (siehe Infokasten). „Wir wollen der Gesellschaft zeigen, daß Migration kein Ausnahmetatbestand ist und die unterschiedlichsten Lebensbereiche betrifft", hebt Oltmer hervor.

Institutsleiter Pott hat in den vergangenen Jahren ein steigendes Interesse junger Studenten an dem Thema festgestellt. Zu seiner Zeit hätten sich nur wenige Kommilitonen dafür interessiert, dies habe sich geändert. Seit dem Wintersemester 2004 bietet die Uni Osnabrück den Masterstudiengang Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen an. „Für den Masterstudiengang mit 30 Plätzen erhalten wir jährlich 300 Bewerbungen, das Graduiertenkolleg mit fünf Plätzen wird von mehr als 80 Leuten nachgefragt", betont Vorstandsmitglied Oltmer.

Zu den Aufgaben des IMIS gehöre es, durch seine Grundlagenforschung, seine Publikationen, seine öffentlichen Veranstaltungen und die wissenschaftliche Beratungstätigkeit seiner Mitglieder einen Beitrag zu leisten zur „Verdichtung und Vernetzung der interdisziplinären Arbeit sowie zum Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis".

„Folgt man den Medien und manch aufgeregten politischen Debatten, entsteht der Eindruck einer Flüchtlingskatastrophe", hält der Wissenschaftler Pott die derzeitige Diskussion für übertrieben: „Im Vergleich zu den frühen neunziger Jahren, als schon einmal der Asylnotstand ausgerufen wurde, liegen die Zahlen trotz wachsender Tendenz bis heute deutlich niedriger."

Daß die Debatte heute so emotional geführt werde, liege daran, daß Politik und Gesellschaft in den vergangenen beiden Jahrzehnten geschlafen hätten: „Notquartiere werden eingerichtet, Krisensitzungen abgehalten oder neue Erstaufnahmeunterkünfte eingerichtet. Maßnahmen, die auch deshalb nötig werden, weil die vergangenen zwanzig Jahre nicht zum Aus-, sondern vielerorts eher zum Rückbau der unterstützenden Infrastruktur genutzt wurden", kritisiert Pott. Der Universitätsprofessor unterstellt den Deutschen in der Diskussion indirekt Engstirnigkeit. Ihr Blick sei total verengt: „Während 90 Prozent aller Menschen auf der Flucht in Entwicklungsländern leben, sind es in Europa nicht einmal fünf Prozent. Die Dramen und Katastrophen finden andernorts statt."

Statt einer seit Jahren geforderten „umfassenden und europäisch koordinierten Flüchtlingspolitik" werde auf Abwehr und Abschreckung gesetzt. So kritisiert das IMIS unter anderem die Residenzpflicht und ein „gesetzlich geregeltes Nichtstun", welches den Flüchtlingen auferlegt werde. Bis zu einer wahren Willkommenskultur, wie sie die Politik angekündigt habe, sei es noch ein weiter Weg.


Netzwerk Flüchtlingsforschung

Geht es nach den Wissenschaftlern des Netzwerkes Flüchtlingsforschung, dann ist die Flüchtlingspolitik der EU ein Fiasko. Nora Markard (Juniorprofessorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Global Constitutionalism an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Uni Hamburg) kritisiert mangelnde „Humanität". Petra Bendel (Akademische Direktorin und Geschäftsführerin am Zentralinstitut für Regionenforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) verlangt „legale und geschützte Zugangswege, die eine echte Alternative zu den gefährlichen Routen über das Mittelmeer böten", und Stephan Dünnwald (Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung) verdammt die „Agenda der Mutlosen" Europa mache „keine Politik", sondern ergehe sich in „Angstreaktionen". In dem im Juni 2013 gegründeten Netzwerk sind 57 Migrations-Wissenschaftler versammelt, um der „Flüchtlingsforschung mehr Aufmerksamkeit" zu verschaffen. Zum Organisationskomitee gehören Markard, Olaf Kleist (Refugee Studies Centre, University of Oxford), Ulrike Krause (Zentrum für Konfliktforschung, Universität Marburg) sowie Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Uni Osnabrück.