© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Ein Orakel, das mit sich reden läßt
Zionistischer Außenseiter, gottgläubiger Sozialist, Seelenarzt: Zum fünfzigsten Todestag des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber
Dirk Glaser

Wie ein triumphaler Rückschlag auf die „Machtergreifung" der unverschämt jungen nationalsozialistischen „Bewegung" mit ihrem 44jährigen „Volkskanzler" Adolf Hitler wirkt das gerontokratische Spitzenpersonal des 1949 gegründeten Bonner Teilstaates: der Bundeskanzler, Konrad Adenauer, im 74. Lebensjahr, der Bundespräsident, Theodor Heuss, ebenfalls ein Kind der Kaiserzeit, mit 65 klar auf der Ruhestandsschwelle. Herren im hohen Alter prägten auch das geistig-kulturelle Profil der frühen Bundesrepublik, deren beliebtester Belletrist der in der Schweiz residierende Mittsiebziger Thomas Mann war, während der weltanschaulicher Orientierung bedürftige Teil des Bildungsbürgertums sich an Karl Jaspers (1883–1969), Albert Schweitzer (1875–1965) oder an den allein schon mit seinem alttestamentarischen Prophetenhabitus imponierenden Martin Buber (1878–1965) hielt.

Buber, 1938 in die Emigration nach Palästina gezwungen, empfing 1953 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, weil er sich in Israel noch vor Gründung des Judenstaates 1948 für die Aussöhnung mit den international geächteten Verlierern des Zweiten Weltkrieges einsetzte. Aber weniger dieses Engagement und der um „Wiedergutmachung" bemühte Zeitgeist, sondern die großväterliche Aura, die bruchlose Anknüpfung an die Epoche vor dem „Tausendjährigen Reich" versprach, erklären die starke Präsenz des mit Preisen und Einladungen überhäuften, sogar mit einem medizinischen Ehrendoktor gewürdigten jüdischen Religionsphilosophen, Volkserziehers, „Seelenarztes" und – wie er sich selbst charakterisierte – „Orakels, das mit sich reden läßt". Mit Buber, der übrigens nie viel Aufhebens machte von der „Schuld" seiner Gastgeber, betrat aber vor allem noch einmal der Typus des weisen Weltdeuters die Bühne, wie er den Deutschen vertraut war aus friedlicheren Zeiten, in denen viele von ihnen überdies fundamental bessere Beziehungen zu ihren jüdischen Nachbarn gepflegt hatten als zwischen 1933 und 1945.

Was in Bubers Schriften das Lesepublikum wieder faszinierte war die scheinbar simple Botschaft seiner „dialogischen Philosophie", wonach die Zerrüttung menschlicher Ordnungen, die permanent zu Krisen und Kriegen führe, dem Unvermögen entspränge, stabile Ich-Du-Beziehungen aufzubauen. Stattdessen verlören sich die Menschen in Ich-Es-Relationen, in der „Es-Welt". Diese Denkfiguren, die Buber erstmals 1923 in einem knappen, schwer verständlichen, raunenden Text entwickelt, verarbeiten Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, den der Gelehrte, der sich seit 1914 selbst, freilich nur an der Schreibtischfront, an der Vaterlandsverteidigung gegen die „ungeheuerliche Verleumdungsflut" der ihrer „Lust am Lügen" frönenden Entente-Presse beteiligte, naheliegenderweise als Folge kulturellen, auch Dialogfähigkeit und Gesprächsbereitschaft nicht verschonenden Niedergangs interpretiert.

Ich-Du-Gemeinschaft statt einer Ich-Es-Gesellschaft

Aber unabhängig von intellektueller Kriegsbewältigung korrespondierte der Gegensatz von Ich-Du und Ich-Es mit geläufigen Mustern der Kulturkritik, wie sie der Berliner Student Buber schon um 1900 bei Georg Simmel (1858–1918) und, durch ihn vermittelt, bei einem anderen Begründer der deutschen Soziologie, dem Schleswig-Holsteiner Ferdinand Tönnies (1855–1936) kennengelernt hatte.

Bubers Ich-Du heißt bei dem Großbauernsohn Tönnies „Gemeinschaft", die Es-Welt, in Anlehnung an Karl Marx, „Gesellschaft". Sie ist die Welt entfremdeten, verdinglichten Daseins, das im kapitalistischen Wirtschaftssystem die Lebenswirklichkeit der Massen diktiert. In der Es-Welt agiere, so Buber, ein „alles habendes, alles machendes, mit allem zurechtkommendes Ich", das aber unfähig sei, Du zu sprechen und einem anderen Wesen „wesenhaft" zu begegnen. Die Essenz dieser begrifflich kaum objektivierbaren, sich gegen jede Kanonisierung als „Lehre" sperrenden Sozialphilosophie, die nur eine „Haltung" fördern möchte, brachte der einstige Zionist Erich Fromm (1900–1980) 1976 mit seinem Bestseller „Haben oder Sein" treffend auf den Punkt. Ein Werk, das prompt zum Kultbuch der „Alternativszene", zum Impulsgeber für die aufmarschierende Ökologiebewegung avancierte.

In der idealen Ich-Du-Sphäre soll es bei Buber „wesenhaft" zugehen. Das schließt wechselseitige „Benutzung" und „Vernutzung", Herrschaft und Ausbeutung aus, die in der Es-Welt die Regel sind. Um das Verständnis des Dialogprinzips zu erleichtern, verweist Bubers Interpret Hans-Joachim Werner auf die innere Verwandtschaft der im Ich-Du zu erfahrenden Ablösung von der Fremdbestimmung mit dem auf jede Wirklichkeitsbeziehung – zwischen Menschen sowohl wie zwischen Mensch, Natur und Dingen – zu erweiternden kategorischen Imperativ Kants: „Handle so, daß Du die Wirklichkeit jedes Dinges niemals nur als Mittel brauchst, sondern auch als Zweck an sich selbst achtest."

Trotz des ähnlichen ethischen Ansatzes war Buber weit von der praktischen Philosophie des Königsberger Aufklärers entfernt, zumal von dessen agnostischer Religionsphilosophie, die Gott zur „Vernunftidee" verflüchtigt, für die allein deshalb noch Platz in diesem Gedankengebäude ist, um, wie Heinrich Heine spottete, Kants Diener Lampe den Glauben an die Weltregierung nicht zu rauben, ohne den Menschen einfacher Gemütsart nicht sittlich handeln können.

Buber indes, der dem galizischen Judentum entstammte und der bereits während seiner in Lemberg verbrachten Kindheit mit den ostjüdischen „Frommen", den Chassidim, in Berührung kam, bei denen er „wahrhafte Gemeinde und wahrhaftes Führertum" erlebte, erlag nie der Versuchung, die zuerst in mystischer Versenkung erfahrene, authentische „Gottesbegegnung" mit einer Idee zu verwechseln.

Die Kehrseite dieser tiefen Verwurzelung in jüdischer Religiosität und Geistigkeit zeigte sich, als Buber zum Anhänger Theodor Herzls und zum Verfechter des zionistischen Projekts wurde, das Judentum als Nation in Palästina neu zu konstituieren. Für den religiös amusischen Journalisten Herzl hätte diese Staatsgründung auch in Paraguay oder Uganda stattfinden dürfen. Buber und die ostjüdische Fraktion wollten hingegen die Zionssehnsucht nicht an einem beliebigen Ort stillen, sondern exklusiv im Land der Väter.

Buber forderte binationalen Staat in Palästina

Da Buber nach dem Konflikt mit Herzl aus der Politik für Jahre ins Studium des Chassidismus flüchtete, wurde ihm die „Lösung der Judenfrage" erst wieder zum Problem mit der Balfour-Deklaration (1917), die den innerzionistischen Standortstreit definitiv zugunsten eines „Nationalheims" im britischen Mandatsgebiet von Palästina entschied. Unbeantwortet blieb aber die für Buber zentrale Frage, ob dort, als Nachzügler der europäischen Entwicklung, ein moderner Nationalstaat „wie andere auch" entstehen sollte, oder, jenseits solcher für ihn in der „Es-Welt" leider dominierenden „Realpolitik", eine religiös geerdete Keimzelle der „regenerierten Menschheit", ein Staat nach dem Muster der vormodern-agrarischen „Gemeinschaft", die bei Tönnies Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft zusammenhält, oder nach dem Vorbild der ethnisch-religiös verfugten „Gemeinde" der frommen Chassidim.

Spätestens im Jahr 1929, als latente Spannungen zwischen den oft wie „Herrenmenschen" (Buber) auftrumpfenden jüdischen Einwanderern aus Europa und der angestammten arabischen Bevölkerung blutig eskalierten, war Bubers ohnehin fragile, überaus widersprüchliche Version der zionistischen Utopie offensichtlich zuschanden geworden. Nicht einmal die minimale politische Konsequenz aus der Ich-Du-Philosophie, der Dialog mit den Arabern, und deshalb erst recht nicht Bubers Forderung nach einem binationalen Staat in Palästina, ließ sich mehr verwirklichen.

In seinem Jerusalemer Exil starb Buber vor fünfzig Jahren, am 13. Juni 1965. In diesem Staat geriet der mit einer Deutschen verheiratete, nicht orthodox lebende Jude, der 1948 die gewaltsame Errichtung des Staates Israel, die Vertreibung und Enteignung der Araber, die Teilung des Landes und der Stadt Jerusalem kritisierte, um weiterhin unbeirrbar unter der Fahne des „hebräischen Humanismus" an der jüdisch-arabischen Koexistenz festzuhalten, zunehmend in eine von der zionistischen Rechten hart attackierte Außenseiterposition.

Nicht von ungefähr überwiegen daher in Walter Laqueurs „Geschichte des Zionismus" (1972) kritische, sich an den „völkischen" Elementen seines „schwer faßlichen Systems" reibende Vorbehalte gegen die Überforderung der Politik durch Religion. Buber, so zitiert Laqueur dessen „realpolitisch" siegreichen Weggefährten Chaim Weizmann, sei eine eher „merkwürdige und exotische Gestalt" gewesen, der Weizmann häufig durch seine hochtrabenden Reden irritiert habe, die voller umständlicher Vergleiche ohne Klarheit oder Schönheit gewesen seien. Abgesehen vom westnlich komplexeren Buber-Bild in winzigen akademischen Zirkeln, dürfte dies ein Urteil sein, das bis heute in Israel Bestand hat.


Martin Buber (1878–1965): Typus des weisen Weltdeuters war den Deutschen aus friedlicheren Zeiten vertraut