© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Der widerwillige Hegemon
Herfried Münkler analysiert Deutschlands derzeitige und künftige Rolle in der Europapolitik
Peter Michael Seidel

Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt (...) sein sollte." Nein, das ist kein Zitat aus Münklers neuem Buch, sondern das berühmte Zitat Max Webers von 1895, und dort ist als „Ausgangspunkt" Weltpolitik gemeint, Münkler würde eher Europapolitik an diese Stelle setzen.

Das ist aber nicht der entscheidende Unterschied zu Münklers „Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa". Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß sich die Rahmenbedingungen deutscher Politik seit Webers Diktum entscheidend geändert haben. Was hat sich geändert? Henry Kissinger hat es in diesen Tagen so ausgedrückt: „Zwei Kriege wurden ausgefochten, um den aktuellen Zustand zu vermeiden, einen Zustand, in dem viele Deutschland beschwören, dominant zu sein. Es ist eine Ironie, aber auch eine Notwendigkeit – und für Deutschland eine historische Chance."

Herfried Münkler befaßt sich in seinem neuen Buch mit dieser Chance. Und die hat noch andere Gründe als die von Kissinger angeführten. Um die Feststellungen Münklers zusammenzufassen: Die „Vereinigten Staaten von Europa" wird es nicht geben, vielmehr werden die ökonomischen Unterschiede in Europa seit 2008 wieder größer, und mit einer aktiven Wiederaufnahme des europäischen Integrationsprozesses kann deshalb („vorerst") nicht gerechnet werden. Dies gelte auch für Vorstellungen von einem „Kerneuropa", wie sie bisher manchmal als politische Alternative vertreten wurden.

Aus der geographischen Mitte Europas sei wieder eine geopolitische Mitte geworden – auch wegen der allmählichen Umorientierung der USA von Europa nach Asien. Doch was heißt das konkret? Es bedeutet nach Münkler, daß Deutschland die Aufgabe übernehmen müsse, Europa zusammenzuhalten. Die politische Zukunft des Kontinents werde entscheidend davon abhängen, ob die Deutschen dieses Mal klüger und verantwortlicher damit umzugehen verstünden als in der Vergangenheit. Denn Deutschland sei zur „Zentralmacht Europas geworden". Die Rolle, die der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz dem vereinten Deutschland bereits vor zwanzig Jahren mit diesem Begriff zugeschrieben hatte, sei inzwischen keine Antizipation bevorstehender Entwicklungen mehr, sondern eine Zustandsbeschreibung.

Münkler geht dabei wohl zu Recht davon aus, daß die Herausforderungen der Mitte heute grundsätzlich zu bewältigen und ihre unabweisbaren Probleme zu lösen seien: „Das gibt der Erwartung Raum, der zufolge eine anders aufgestellte deutsche Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Herausforderungen gewachsen sein kann, an denen die Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gescheitert sind." Die Herausforderungen heute haben allerdings noch eine andere Achillesferse: „Bei aller Aufmerksamkeit für die Interessen des Gesamtverbands darf die nationale Regierung der Mitte-Macht darum die Interessen der eigenen Bevölkerung nicht aus dem Auge verlieren", was sonst „verheerende Folgen" hätte.

EU-Zahlungen ähnlich wie Reparationen nach 1919

Münkler verweist darauf, daß die Zahlungen Deutschlands an die EU schon heute „denselben Umfang erreicht hätten wie die Reparationszahlungen, die dem geschlagenen Deutschen Reich 1919 im Frieden von Versailles aufgebürdet worden seien". Und da sind die Kosten aus der verfehlten Euro-Rettungspolitik noch nicht einmal eingerechnet. Münklers Schluß, die Deutschen würden sich nicht „für Europa aufopfern und ausbluten", das sei „keineswegs zutreffend", erscheint daher sehr gewagt! Zumal das Land durch die EU „in weitaus höherem Maße, als sich bei Zugrundelegung von Wirtschaftskraft und Reichtum" ergeben würde", zur Kasse gebeten werde, anders als beispielsweise Frankreich und Großbritannien. Und so erscheint als Ziel zumindest der bisherigen EU-Politik weniger die Einbindung als die Schwächung Deutschlands. Und damit sind wir auch schon beim „Kleingedruckten".

Münkler fragt, bei welchen Verstößen EU-Länder wieder ausgeschlossen werden könnten, gibt darauf aber keine Antwort. Dies gilt auch für seine Feststellung, Deutschland müsse nach vier Jahrzehnten „als Hauptempfänger des Sicherheitsexporteurs USA (...) nun selbst als Sicherheitsexporteur agieren", bezeichnet eine solche Entwicklung aber dann als „unglücklich", weil dafür dann Ressourcen freigemacht werden müßten, die besser anders eingesetzt werden könnten. Und nicht zuletzt gilt dies für seine zweifellos richtige These, daß Deutschland für die von ihm skizzierten Aufgaben „dementsprechend politisches Personal braucht". Dessen Aufgabe wäre, wie er treffend festhält, „etwas grundsätzlich anderes als das Administrieren von Wohlstand". Nur, wo soll das herkommen? Dieser „neue Politikertyp" erscheint jedenfalls im Moment nirgendwo in Sicht.

Beeindruckend sind seine Ausführungen im zentralen Kapitel seiner Schrift über „den „verwundbaren Hegemon" als Lösung für das Mitte-Problem Europas. Denn Deutschland wäre dies aufgrund innenpolitischer und historischer Verwundbarkeiten auch, obwohl die beschriebene Gewichtsverlagerung der Kräfte zustande kam, „ohne daß sie von der deutschen Politik angestrebt oder betrieben worden wäre": „Auf einen politisch unverwundbaren Akteur als europäische Zentralmacht hätten sich die anderen Mitgliedstaaten vermutlich sehr viel weniger eingelassen, weil sie dann befürchtet hätten, in eine ‘Hegemonie ohne Ausgang’ hineinzugeraten." Als symptomatisch führt Münkler hier das Agieren Berlins in der Ukraine-Krise an, wobei er als bemerkenswert festhält, daß es dabei „nicht durch lautstarke Hinweise anderer europäischer Mächte gebremst wurde".

Münkler will mit seinem „Essay" einen Beitrag leisten zu einer Debatte, die „gerade erst begonnen" habe. Das ist ihm gelungen, auch wenn viele Fragen dabei naturgemäß noch offenblieben. Nicht zuletzt die bevorstehende Diskussion um das in Arbeit befindliche neue Weißbuch der Bundesregierung zu sicherheitspolitischen Fragen wird zeigen, was davon auf fruchtbaren Boden fällt.


Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2015, gebunden, 208 Seiten, 18 Euro