© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Pankraz,
der Migrant und die armen Autochthonen

Ein Begriffsarsenal wird neu geordnet: das des Wanderns. Früher gab es Einheimische sowie Einwanderer und Auswanderer beziehungsweise Immigranten und Emigranten. Heute gibt es hierzulande keine Einheimischen mehr, aber auch keine Immigranten/Emigranten. Es gibt – den behördlichen und medialen Verabredungen zufolge – nur noch „Migranten“, denen irgendwelche Schon-da-Seiende, sogenannte „Autochthone“, gegenüberstehen, genauer: im Wege stehen.

In älteren, allgemein akzeptierten Wörterbüchern gibt es die Eintragungen „Migrant“ und „Autochthoner“ gar nicht, auch nicht in englischen oder französischen. Zwar gibt es dort gelegentlich den Eintrag „Migration“, ohne jede Personifizierung, doch sonst gibt es lediglich „Immigranten“ und „Emigranten“ und es gibt die „Völkerwanderung“ („migration of nations“). Daß ein einzelner von Geburt, Herkunft und Temperament her ein „Migrant“ sei und von „Autochthonen“ abgehoben werden müsse, geriet nirgendwo in den Blick der Lexikographen.

Der Begriff des „Nomaden“ taucht natürlich in allen Wörterbüchern auf, indes, er bezieht sich durch die Bank auf ganze Völker oder Stämme, nie auf einzelne Individuen. Man spricht von „Nomadenvölkern“, die sich durchaus ihrer eigenen Autonomie bewußt sind und sich ihrer auch rühmen. Es werde bei ihnen scharf unterschieden zwischen bloßem „Gast“ und entschlossenem Dauerzuzügler. Dieser werde strengster Überprüfung unterzogen, müsse die Sprache des Volkes, in das er eintreten wolle, erlernen und auch sonst viele Tests bestehen, bevor er aufgenommen und der Rechte der angestammten „Nächsten“ teilhaftig werde.


Heute in der Bundesrepublik Deutschland und auch in anderen modernen Nationen des Westens herrschen, was die Aufnahme von sprachunkundigen und kulturfremden Zuwanderern betrifft, sehr viel lässigere Bräuche als bei den traditionellen Nomadenvölkern, ja, die Verhältnisse haben sich zum Teil bereits umgekehrt. Nicht mehr der „Migrant“ hat sich zu rechtfertigen und zu erklären, daß er sich der Sprache, den Rechtsgrundsätzen und kulturellen Traditionen der „Autochthonen“ ehrlich annähern werde, sondern ebendiese komischen „Autochthonen“ geraten in Rechtfertigungszwang.

Sie müssen unter argwöhnischer Aufsicht ihrer eigenen Medien und Behörden dauernd versichern, daß sie allem Fremden gegenüber höchst aufgeschlossen und bis zur Selbstpreisgabe tolerant seien. Sie dürfen nicht den geringsten Mucks tun auch gegen ausgedehnteste Etablierungen „menschenwürdiger“ Übergangsetablissements für „Flüchtlinge“ und „Asylanten“, wie ungeklärt deren sozialer Status auch immer sei. Der „Migrant“ ist im Vergleich zum „Autochthonen“ der bessere Mensch – wer das nicht einsieht, der ist ein Nazi und wird aus der Gemeinschaft der Gutmenschen ausgeschlossen.

Freunde von Wörterbüchern und Nachschlagewerken, mittlerweile schon gewöhnt an brutalste Ideologisierungen der Einträge, warten jetzt bänglich auf die Folgen, die der Siegeszug des „Migranten“ bei Behörden und Medien für die Lexikographie haben wird. Wie werden sich die Einträge zu den Wörtern „Wandern“ und „Wanderer“ künftig darbieten? Wird es sie überhaupt noch geben? Oder wird man nur noch von „Migranten“ sprechen dürfen, wenn man up to date bleiben und seine Ruhe haben, nicht in den Fokus quasi-offizieller Sprachregulierer geraten will?

Lange Zeit bedeutete „Wandern“ im Deutschen (parallel zum englischen „to walk“) nichts weiter, als sich zu Fuß über längere Strecken fortzubewegen, also zu Fuß zu reisen, wie das im vorindustriellen Postkutschen-Zeitalter die armen Handwerksburschen und andere Saisonarbeiter tun mußten, um von einem Job zum nächsten zu kommen. Feinere Formen der Fortbewegung per pedes über weite Strecken waren etwa das Spazieren oder das Flanieren; eine härtere Gangart forderte dagegen das militärische Marschieren. Für alle diese Fortbewegungsarten gab es eigene Wörter und eigene Wortgeschichten.


Während der deutschen Romantik und des anschließenden Biedermeiers aber begann sich der Begriff des Wanderns gewissermaßen ideologisch zu verändern, nämlich mit idealistischem und kulturrevolutionärem Zusatz-Sinn aufzuladen, der weit über den originären Gebrauchs-Sinn hinausreichte. Studentische, national-liberal gesinnte Burschenschafter mauserten sich zu „Wandervögeln“, das frisch-fromme, durchaus strikt-stramme gemeinsame Stapfen durch schöne Landschaften nebst Lagerfeuer und Lautenschlag sollte beitragen zum Ausstieg aus dem Muff und der öden Gleichmacherei in den Städten. Eine „neue Zeit“ schien in Sicht.

Doch die neue Zeit blieb aus, und aus den Wandervöglern von einst sind inzwischen biedere Ferienwanderer geworden, die maßvoll, unter Anleitung eines Reiseführers und unterstützt von zwei rhythmisch bewegten Ski-Stöcken durch Berg- und Wiesentäler marschieren und dazu das bekannte Rennsteiglied singen. „Nordic Walking“ heißt das auf neudeutsch, und es dient mit Sicherheit der Volksgesundheit und der Themenvielfalt in Dritten Fernsehprogrammen.

Aber die Zeitgeistwächter sehen es trotzdem mit äußerstem Mißtrauen und sinnen auf Angleichung der Streifen an Grimme-Preis-fähige Standards. Sie werden nicht eher Ruhe geben, als bis endlich auf sämtlichen Kanälen des deutschen Fernsehens zumindest während der ereignisarmen Sommermonate ein Film läuft, in dem man sieht, wie ein Pulk von abgelehnten somalischen Asylbewerbern und sonstigen Migranten unter Führung von Claudia Roth und Gregor Gysi über den Rennsteig wandert und dazu das Lied „We shall overcome“ singt.

Dazu wird man einige verstockte, uneinsichtige Autochthone ängstlich-empört hinter autochthonen Fichten hervorlugen sehen. Oder sollten es besser Buchen sein und die Autochthonen mit Gebrüll und drohend erhobenen Knüppeln  hinter ihnen hervorbrechen? Die Regie ist sich noch nicht einig.