© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Der Mythos von einer Verfassung
Vor 800 Jahren wurde in England die Magna Charta besiegelt / Die Deutung als Ur-Dokument des europäischen Staatsrechts stammt aus späterer Zeit
Karlheinz Weißmann

Wer Schüler in einem Bundesland war, das vormals zur britischen Besatzungszone gehört hatte, konnte es noch in den siebziger Jahren mit einem Rest jener spezifischen Form der Reeducation zu tun bekommen, die London für richtig gehalten hatte, um den Deutschen die Demokratie näherzubringen. Das hieß, man befaßte sich im Geschichts- wie im Gemeinschaftskundeunterricht aufs ausführlichste mit der Entwicklung des englischen Parlamentarismus, der als Grundmuster des Normalwegs der Geschichte galt. 

Unvermeidlich kam dabei die Rede auch auf dessen Ausgangspunkt: die Magna Charta Libertatum, den „Großen Freiheitsbrief“ von 1215. Kaum jemandem dürfte klar gewesen sein, daß hinter dieser Vorstellung eine der wirkmächtigsten politischen Mythologien stand, die sich seit dem 17. Jahrhundert ausgebildet, die Opposition gegen den Absolutismus, den Unabhängigkeitskampf der Nordamerikaner, die Französische Revolution und die liberale Bewegung massiv beeinflußt hatte und dazu führte, daß England als Vorbild schlechthin für Gewaltenteilung und „rule of law“, die „Herrschaft des Gesetzes“, galt und gilt.

Wie bei jeder Mythologie hat man es auch bei dieser mit Umdeutungen und phantastischen Dekorationen zu tun, die aus Mißverständnissen, veränderter Erzählabsicht oder gewandelten Bedürfnissen entstanden und dazu führten, den ursprünglichen Kern des Geschehens mehr oder weniger zu verdecken. Der hatte im Fall der Magna Charta jedenfalls nur wenig mit modernen Verfassungsidealen zu tun, viel mit den spezifischen Bedingungen einer feudalen Ordnung des Hochmittelalters. Die war immer verhältnismäßig labil, geprägt von einer Menge ungeschriebener Gesetze und Regeln, Fragen persönlicher Loyalität und den Möglichkeiten, einer Verpflichtung auszuweichen, weil die Erzwingungschancen ohne ausgebautes Polizei- und Gerichtswesen sehr gering waren. 

Die normannischen Herrscher Englands, die nach der erfolgreichen Invasion von 1066 das Land regierten, hatten allerdings viel getan, um die Selbständigkeit ihrer Vasallen zu beschneiden. Dem dienten entsprechende Maßnahmen so energischer Könige wie Wilhelm I. oder Heinrich II. Aber es gab auch Zeiten, in denen das eigentliche Wesen des Feudalismus als organisierte Anarchie zutage trat, vor allem bei Thronstreitigkeiten, längerer Abwesenheit des Herrschers oder militärischen Niederlagen.

Immer dann nutzten die großen Adligen – in England als „Barone“ bezeichnet – die Möglichkeit, die Macht der Zentrale zu schwächen und ihre eigene zu stärken; so im Fall des Bürgerkriegs zwischen Stephan von Blois und Königin Mathilde, so während der Abwesenheit von Richard Löwenherz infolge seiner Kämpfe in Aquitanien, der Kreuzzüge und seiner Gefangenschaft, so auch unter der Herrschaft seines Bruders Johann, der sich den Beinamen „Ohneland“ verdiente, weil er praktisch den gesamten französischen Besitz der Krone verlor.

Merkwürdiges Konglomerat von Forderungen des Adels

Um eine Rückeroberung auch nur in Betracht ziehen zu können, mußte Johann sich nicht nur der Heeresfolge der Barone versichern, sondern auch die Zahlung des „Schildgeldes“, einer Art Kriegssteuer, erreichen. Was den ersten Punkt anging, hatte er schon verschiedentlich den Widerstand des Adels gegen Kriegsdienst außerhalb des englischen Gebietes erlebt; was den zweiten betraf, führte die mehrfache Einforderung des Schildgeldes in wenigen Jahren zur offenen Rebellion. Die Schwäche von Johanns Stellung erklärt sich außerdem durch den anhaltenden Konflikt mit der Kirche und die tyrannische Natur des Königs, dessen Feigheit, Lüsternheit und Grausamkeit ihn bei seinen Untertanen verhaßt machten. Schon seit 1212 gab es verschiedene Pläne der Magnaten, Johann zu stürzen oder sogar zu töten, die aber alle scheiterten. Erst nachdem Johann 1214 in Frankreich vernichtend geschlagen wurde und bei seiner Heimkehr die Zahlung des ausstehenden Schildgeldes verlangte, kam es zur offenen Erhebung. 

Der Ausgang des Konflikts stand dabei keineswegs von Anfang an fest, da es Johann gelang, ein verhältnismäßig starkes Söldnerheer aufzustellen. Erst nachdem sich London auf die Seite der Rebellen geschlagen hatte, lenkte er ein. Am 15. Juni 1215 trafen beide Seiten auf einer Runnymede genannten Wiese zusammen, die an der Themse zwischen Staines und Windsor lag. Die Verhandlungen dauerten noch vier Tage an, bevor der König sein Siegel unter die Forderungen der Aufständischen, den „Großen Freiheitsbrief“, setzte.

Herrscher an die Vertretung der Allgemeinheit fesseln

Schon bei oberflächlicher Betrachtung des Textes zeigt sich, daß es um ein merkwürdiges Konglomerat von Forderungen ging, die von den verbrieften Rechten der englischen Kirche über die Garantie der Straflosigkeit bei Beteiligung an der Erhebung bis zum Verbot von Fischreusen in der Themse reichten. Besonderes Gewicht hatten allerdings die Artikel, die dem König Steuerforderung ohne Zustimmungen des Rates der Adligen untersagten und die Festlegung, daß kein Freier – eine Minderheit der Einwohner Englands zum damaligen Zeitpunkt – grundlos durch einen Beauftragten des Königs festgehalten werden dürfe, worin man die Urform des berühmten Habeas-Corpus-Grundsatzes sehen kann, der vor willkürlicher Festnahme und Verurteilung schützt. Daß es sich dabei um eine Neuerung handelte, hätten die Verfasser der Magna Carta allerdings bestritten. Für sie ging es um „das alte Recht“. Ein Gedanke, der seinen sachlichen Grund darin hatte, daß in der Magna Carta tatsächlich viel von dem wiederholt wurde, was schon 1100 Heinrich I. in der sogenannten „Charter of Liberties“ zugestanden hatte. Ihre verändernde Kraft entfaltete die neue Urkunde tatsächlich erst nach und nach. 

Johann nutzte jedenfalls die erste Gelegenheit, um – gedeckt durch ein päpstliches Votum – die Bestimmungen der Magna Charta für nichtig zu erklären, da unter Zwang zustande gekommen. Er ging erneut mit militärischen Mitteln gegen die Barone vor, die ihrerseits den Sohn des französischen Königs ins Land holten und auf den Thron zu setzen versuchten. Die Eskalation des Konflikts wurde nur durch den frühen Tod Johanns abgeschnitten, der am 18. Oktober 1216 starb. 

Die Berater seines minderjährigen Sohns, Heinrichs III., sahen sich zur neuerlichen Bestätigung der Magna Charta gezwungen, und damit setzte jener Prozeß ein, der ihr den Status als Grundgesetz des Königreichs verlieh. Der britische Historiker David Starkey hat unlängst darauf hingewiesen, daß dieser Status sich auch daraus erklärte, daß die Magna Charta eben nicht revolutionär im modernen Sinn, sondern „revolutionsverhindernd“ wirkte. Deshalb, so Starkey, erlebte England zwar im 17. Jahrhundert einen blutigen Bürgerkrieg zwischen Parlament und Krone, seien ihm aber Vorgänge wie die Französische oder die Russische Revolution erspart geblieben, von denen sich die betreffenden Länder bis heute nicht erholt hätten. 

Das alles habe im übrigen mit den konkreten Inhalten der Magna Charta nur wenig zu tun – deren einzelne Punkte für die heutige Verfassung Englands gar keine Rolle mehr spielen –, sondern damit, daß hier zum ersten Mal ein Konzept erprobt wurde, das es erlaubte, den Herrscher an die Vertretung der Allgemeinheit „zu fesseln“.

Foto: Die Fassung der Magna Charta von 1297 in den National Archives in Washington: Vertragsinhalt für heutige Verfassung Englands ohne Bedeutung