© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Stühlerücken im Waggon
Vor 75 Jahren mußte Frankreich im Wald von Compiègne die Kapitulation unterzeichnen / Das Szenario von 1918 sollte aus der Erinnerung gelöscht werden
Martin Voelkel

Am 21. Juni 1940 notierte der italienische Außenminister Ciano in seinem Tagebuch: „Er spricht heute mit einer Mäßigung und Klarsicht, die nach einem Sieg, wie dem seinen, wirklich überraschen. Ich stehe nicht im Verdacht besonders zarter Gefühle für ihn, aber in diesem Augenblick bewundere ich ihn wirklich.“ Die Sätze bezogen sich auf Hitler und auf den an diesem Tag in Compiègne abgeschlossenen Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich. 

Zweiundzwanzig Jahre zuvor waren schon einmal Vertreter beider Staaten bei dem Ort nordöstlich von Paris zusammengetroffen, um über das Ende von Kämpfen zu verhandeln. Dafür, daß diese Verknüpfung keinen Moment vergessen werden konnte, hat Hitler gesorgt. Er erschien persönlich zu den Verhandlungen, ordnete an, daß das von den alliierten Siegern gesetzte Denkmal, auf dem vom „verbrecherischen Stolz“ des Deutschen Reichs die Rede war, geschleift und der Eisenbahnwaggon, den man 1918 benutzt hatte, aus dem nahegelegenen Museum herbeigeschafft wurde. Er bestimmte auch, daß da, wo die Deutschen als Unterlegene in dem Wagen gesessen hatten, nun die besiegten Franzosen Platz nehmen mußten, General Weygand an der Stelle von Matthias Erzberger, er selbst an der des französischen Oberkommandierenden Marschall Foch.

Aus dem Ablauf der Gespräche hielt Hitler sich im übrigen heraus. General Keitel verlas als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht die Präambel des Abkommens, in der es hieß: „Wenn zur Entgegennahme dieser Bestimmungen der historische Wald von Compiègne bestimmt wurde, dann geschah es, um durch diesen Akt einer wiedergutmachenden Gerechtigkeit – einmal für immer – eine Erinnerung zu löschen, die für Frankreich kein Ruhmesblatt seiner Geschichte war, vom deutschen Volk aber als tiefste Schande aller Zeiten empfunden wurde.“ Weiter ging die kalkulierte Demütigung nicht. 

Bedachte man das Ausmaß der Niederlage, kam Frankreich verhältnismäßig glimpflich davon: Entgegen der Befürchtung der neuen Staatsführung unter Marschall Pétain verlangte Deutschland weder die Auslieferung der Kolonien – auf die Italien als Verbündeter des Reiches besonders in Afrika begehrliche Blicke warf –, noch den Einsatz der französischen Flotte gegen den bisherigen Verbündeten Großbritannien. 

Keine durchdachte Strategie über Frankreichs Zukunft

Allerdings wurden drei Fünftel des Territoriums mitsamt der Hauptstadt Paris besetzt, der Norden beunruhigenderweise dem für Belgien zuständigen Militärkommando unterstellt, eine vollständige Entwaffnung bis auf ein Rumpfheer von 100.000 Mann und die Erstattung der Besatzungskosten verlangt. Elsaß-Lothringen erhielt eine Zivilverwaltung, und gegen die faktische Annexion der Gebiete konnte Pétain genausowenig ausrichten wie gegen die deutsche Weigerung, eine größere Zahl französischer Kriegsgefangener auf freien Fuß zu setzen. Seine Regierung, die in Bordeaux von der geflüchteten Nationalversammlung in ihr Amt eingesetzt worden war, verließ die Stadt, die zur Besatzungszone gehörte, zog zuerst nach Clermont-Ferrand, dann in den Kurort Vichy um, die Zentrale des neuen „Etat Français“, des „Französischen Staates“.

Pétain war zu diesem Zeitpunkt von der Notwendigkeit, mit den Deutschen zu einer Einigung zu kommen schon deshalb überzeugt, weil er darin die Voraussetzung für die „Wiedergeburt“ Frankreichs sah. Die Enttäuschung über das Verhalten der Briten hatte bei ihm wie bei vielen Franzosen dem alten Affekt gegen das „perfide Albion“ Nahrung gegeben, ohne daß der Marschall deshalb in der „collaboration“ – der „Zusammenarbeit“ mit den Deutschen, die in Compiègne vereinbart worden war – etwas anderes sah als einen Notbehelf. Der Verächter der Republik nutzte allerdings die Gelegenheit, um Frankreich in ein autoritäres Regime zu verwandeln, das nichts mehr von der Parole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ hören sollte, sondern auf die Trias „Arbeit – Familie – Vaterland“ eingeschworen wurde.

Man hat zu Recht betont, daß es am Beginn des Zweiten Weltkriegs keine „Ideen von 1939“ gegeben hat, wie es zu Beginn des Ersten „Ideen von 1914“ gab. Allerdings könnte man mit einem gewissen Vorbehalt von den „Ideen von 1940“ sprechen. Die Verschiebung kam dadurch zustande, daß der improvisierte Kriegsbeginn im Herbst des Vorjahres gar keine größeren Perspektiven eröffnete, während man nach den deutschen Siegen in Skandinavien und dem überraschend schnell errungenen Erfolg in Frankreich den Eindruck gewinnen konnte, als ob es nicht nur um die Annahme eines unvermeidbaren Konflikts oder um „Revanche“ gehe, sondern darüber hinaus um einen „Befreiungskrieg“ gegen „den Westen“. Nie zuvor standen die Deutschen so geschlossen hinter dem Regime, und ein Mann wie der Historiker Friedrich Meinecke, jeder Sympathie für Hitler oder den Nationalsozialismus unverdächtig, war angesichts des Triumphs derart erschüttert, daß er schrieb „Ich will (...) in Vielem, aber nicht in Allem, umlernen.“

Sehr rasch sollte sich aber zeigen, daß Compiègne nicht der Anfang, sondern das Ende von etwas war, nur ein Moment, vielleicht der größte in Hitlers Leben. Gleichzeitig der, in dem sich enthüllte, daß er keinen politischen Entwurf hatte, der es ihm erlaubte, das zu gestalten, was ihm zufiel. Als 1945 eine noch viel größere Niederlage als 1918 unmittelbar vor Augen stand, sorgten SS-Einheiten dafür, den nach Thüringen geschafften symbolträchtigen Waggon von Compiègne zu zerstören. Eine Revision der Revision sollte auf keinen Fall mehr stattfinden.