© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Digitale Demenz in der Kritik
Über Risiken und Nebenwirkungen der Computereuphorie: Erneute Angriffe auf Manfred Spitzers Thesen
Christoph Keller

Es ist nicht leicht, im babylonischen Stimmengewirr, das die „öffentliche Meinung“ macht, ein geflügeltes Wort durchzusetzen und damit das Bewußtsein vieler Menschen zu modellieren. Manfred Spitzer ist dieses Kunststück 2012 mit dem Titel seines Sachbuches „Digitale Demenz“ gelungen (JF 8/13). Paradoxerweise machte das medienkritische, viel Wasser in den Wein der allgemeinen Interneteuphorie schüttende Werk des promovierten Mediziners, der seit 1998 ärztlicher Direktor der psychiatrischen Uniklinik in Ulm ist, seinen Autor aus dem Stand zum omnipräsenten Medienstar.

Der große Bucherfolg verdankt sich Spitzers Gabe, dem Leser Orientierung über selbst für Fachleute schwer zu überschauende Forschungsprozesse auf Feldern zu vermitteln, auf denen sich Neurologen, Hirnphysiologen, Psychologen und Sozialwissenschaftler begegnen, wenn es darum geht, die Effekte digitaler Informationstechnik auf Geist und Körper von Kindern und Jugendlichen abzuschätzen. Basierend auf einer Unmenge von Studien, behauptet die häufig als „kulturpessimistisch“ geschmähte, eingängige Hauptthese Spitzers, daß Bildschirmmedien Heranwachsende vorwiegend negativ konditionierten.

Spitzers Gegner stützen sich auf veraltete Studien

Dieser pointierten Interpretation einer Flut von Studien, Analysen und Meta-Analysen sind die Medienpsychologen Markus Appel und Constanze Schreiner (Universität Koblenz-Landau) in ihrer „Entmythologisierung“ der Thesen Spitzers entgegengetreten. Weder reduziere häufige Netznutzung soziale Kontakte, verringere gesellschaftliche Teilhabe oder führe infolge Bewegungsmangels und „Snack“-Ernährung zu früher Fettleibigkeit, noch ließe sich eine Zunahme von Aufmerksamkeitsdefiziten durch Notebook-Einsatz im Unterricht, eingeschränkte schriftsprachliche Kompetenz oder ein Zusammenhang zwischen dem Konsum von Gewaltvideos und jugendlicher Aggressivität bemerken.

Tendenziell kommt diese Attacke dem Versuch gleich, Spitzers fundamentale Kritik unserer „schönen neuen Medienwelt“ in die Nachbarschaft zur Scharlatanerie zu rücken. Kein Wunder, wenn der Psychiatrieprofessor nun im Frühjahrsheft der Psychologischen Rundschau (2/15) zum Gegenschlag ausholt, dem die Angegriffenen im selben Heft antworten, indem sie erneut versuchen, seine Ansichten über Verheerungen, die Medienkonsum in Kinderhirnen anrichtet, hartnäckig als „populärwissenschaftlich“ konstruierte „Mythen“ zu disqualifizieren. Was erstaunt, denn Spitzer weist seinerseits Punkt für Punkt nach, daß seine Kritiker nur deshalb wissenschaftlich schlüssig zu argumentieren vermögen, weil sie Studien verwerten, die zwischen 1995 und 2008 entstanden, als digitale Medien noch keine so wesentliche Rolle für Jugendliche spielten wie in jüngster Zeit.

So belegen Studien, die in einem US-Fachblatt für Kinderheilkunde 2013 und 2014 erschienen, sowohl klar die Kausalität zwischen Bildschirmexistenz und Fettleibigkeit als auch die Gewaltneigung bei Jugendlichen, deren Gedankenwelt durch Computerspiele geformt worden sei. Verharmlosend sei es daher, wenn Appel und Schreiner von „kleinen Effekten“ sprächen. Wie die Kausalbeziehung zwischen Rauchen und Lungenkrebs zeigt, können auch scheinbar „mäßige“ statistische Zusammenhänge so schaurige Szenarien offenbaren wie die 140.000 Menschen, denen allein in Deutschland alljährlich ihre Tabakleidenschaft den Tod bringt.

Unterschätzte Gefahr schwerer Lesestörungen

Genauso eindeutig steht für Spitzer fest, daß es „unverantwortlich“ sei, weiter erhebliche Steuermittel zu investieren, um in Schulen das e-learning am PC zu forcieren. Eine 20 Millionen Dollar teure texanische Studie habe bereits 2009 keine lernfördernden Wirkungen von Computern im Unterricht registriert. 2011 mußte in Birmingham (Alabama) ein Großversuch mit 15.000 an Schüler verschenkten Notebooks abgebrochen werden, weil die auf diese Weise technisch aufgerüsteten Probanden deutlich schlechter lernten. Eine neue chinesische Untersuchung, die 6.000 Schüler erfaßte, weise „eindrucksvoll“ nach, wie das Tippen am Computer „zu weniger Einspeicherung im Gedächtnis führt als das Schreiben mit der Hand“; mit der Folge schwerer Lesestörungen.

Appel und Schreiner gehen auf solche unbequemen Forschungsresultate entweder gar nicht ein oder bestreiten schlichtweg etwa gesichertes Wissen über den Einfluß gewalthaltiger Medien. Oder sie versuchen Spitzer der „selektiven“ Wahrnehmung zu verdächtigen, um ihren Vorwurf zu untermauern, er presse die aktuell wenig kohärente Forschung in sein „binäres Beurteilungsraster“, das für die Auswirkungen der Internetnutzung nur „gut oder böse, Wohl oder Schaden“ kenne.


Vortrag von Manfred Spitzer in Louisenlund zum Thema „Digitale Demenz“: www.youtube.com/