© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Das Tischtuch ist zerschnitten
Ostukraine: Der Minsker Waffenstillstand ist brüchiger denn je / Säbelrasseln der Nato und Moskaus verschärft die Situation
Thomas Fasbender

Der Bürgerkrieg in der Ukraine hat sich festgefressen. Auch die am Wochenende angekündigte Ukrainetour von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wird daran nichts ändern. Der russische Militärexperte Alexander Perendschijew mißt ihr ohnehin nur „symbolischen“ Charakter bei: „Der ukrainischen Führung dient der Besuch zur Selbstdarstellung, am ehesten noch als Signal, die Militäraktionen in der Ostukraine zu verlängern.“ 

Zuvor war es in der ersten Juni-Woche zu einem heftigen Aufflammen der Kampfhandlungen entlang der gesamten Frontlinie gekommen. Stoltenberg behauptete danach, Rußland habe erneut in großem Umfang Waffen und Ausrüstung an die ostukrainischen Separatisten geliefert. In Moskau wurde die Aussage postwendend dementiert. Seitens der Kiewer Regierung hieß es  zu Wochenbeginn, 500 russische Soldaten seien in das Gebiet bei Marjinka eingeschleust worden. 

Wer differenziert schon zwischen beiden Konflikten

Gleichzeitig sprach der Vize-Befehlshaber der Aufständischen, Eduard Bassurin, von Raketenwerfern vom Typ „Grad“ – eine moderne Version der Stalinorgel –, die von den Regierungstruppen in die Gegend der Ortschaft Nowotroizkoje verlegt worden seien. Wiederholt hatten OSZE-Beobachter berichtet, beide Seiten hätten erneut schwere Artillerie an die Front geschafft.

Auch die Einnahme Mariupols, der letzten Großstadt im Donbass auf Regierungsterritorium, steht immer wieder einmal auf dem Programm der Aufständischen. Ebenso wie das Ziel der Rebellenführer, doch den gesamten Donbass zu erobern – bislang umfassen die selbsternannten „Volksrepubliken“ nur etwa die Hälfte der ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk.

Der im Februar ausgehandelte Minsker Waffenstillstand bleibt jedenfalls brüchig. Auch ein Besuch in Donezk macht deutlich, wie verfahren und friedensfern dieser Bürgerkrieg längst ist. Der Haß der Zivilbevölkerung – der Menschen auf der Straße, vor allem der Frauen – auf die Regierung in Kiew ist mit Händen zu greifen. Es ist kein ethnischer Konflikt und kein sprachlicher, es geht ausschließlich um Selbstbestimmung und Autonomie des Donbass. Seit dem Angriff der Armee im Sommer 2014 ist das Tischtuch zerschnitten. Die von westlichen Medien gern verbreitete Darstellung, Moskau habe die abtrünnigen ukrainischen Gebiete besetzt oder okkupiert, hält der Überprüfung vor Ort nicht stand. Von einer Invasion durch Truppen aus dem Nachbarland kann keine Rede sein. Wer differenziert schon zwischen den beiden Konflikten, die sich in der Ostukraine überlagern: dem lokalen innerukrainischen und dem geopolitischen, westlich-russischen, bei dem es um Hegemonie und Einflußsphären geht.

Letzterer ist auch der Konflikt, in dessen Rahmen das Pentagon die Ausrüstung eines ganzen US-Regiments an der Nato-Ostgrenze stationieren will. Der polnische Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak erwartet die Entscheidung binnen weniger Wochen: „Die USA wissen, wie wichtig das für uns ist. Wir wünschen uns eine ständige US-Präsenz, eine alliierte Armee auf polnischem Territorium.“

In Moskau sagte General Juri Jakubow vom russischen Verteidigungsministerium, die Stationierung schwerer Waffen an der russischen Grenze wäre die „aggressivste US-Maßnahme“ seit Ende des Kalten Krieges. Rußland habe in dem Fall keine andere Wahl als den Ausbau seiner „Streitkräfte und Ressourcen“ entlang der westlichen strategischen Front. Dazu gehöre die Aufstellung von Iskander-Mittelstreckenraketen im Gebiet Kaliningrad, dem nördlichen Teil des früheren Ostpreußen, und die Verstärkung russischer Kontingente im Nachbarland Weißrußland. Präsident Putin verkündete die Beschaffung zusätzlicher vierzig Interkontinentalraketen mit atomaren Sprengköpfen.

Nicht nur in Rußland, auch in den osteuropäischen Ländern Bulgarien und Ungarn regt sich Widerstand gegen die geplante US-Maßnahme. Der US-Oberbefehlshaber in Europa, Generalleutnant Ben Hodges, brachte inzwischen einen Kompromiß ins Spiel: „Die gesamte Technik wird möglicherweise in Deutschland untergebracht.“

 Meinbungsbeitrag Seite 2

Foto: Lugansker feiern den ersten Jahrestag ihrer selbsternannten Volksrepublik (12. Mai): Der Haß auf die Regierung in Kiew ist allgegenwärtig