© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Leiden auf der trockenen Guillotine
Napoleons Ende auf St. Helena nach 1815: Bis heute wird gerätselt, woran der Korse in der Verbannung im Südatlantik starb
Wolfgang Kaufmann

Nach seiner endgültigen Niederlage in der Schlacht von Waterloo und der erzwungenen Abdankung als Kaiser der Franzosen irrte Napoleon Bonaparte ab dem 22. Juni 1815 ziellos durch Frankreich, während auf der Gegenseite Unklarheit herrschte, wie mit dem gestürzten Eroberer zu verfahren sei: Die Preußen hätten ihn am liebsten ohne viel Federlesens exekutiert, während andere für eine sehr viel mildere Behandlung plädierten. 

Deshalb verzichtete Napoleon nach längerem Überlegen auf den Versuch, vom Biskaya-Hafen Rochefort aus in die USA zu flüchten, wo schon sein älterer Bruder Joseph untergekommen war. Stattdessen begab er sich am 15. Juli freiwillig an Bord des britischen Linienschiffes „Bellerophon“, das die Einfahrt nach Rochefort blockierte. Dabei leitete ihn die Hoffnung auf politisches Asyl in England. Um so größer war dann die Enttäuschung des Ex-Kaisers, als ihm Ende Juli – die „Bellerophon“ lag inzwischen auf der Reede vor Plymouth – von den Siegermächten eröffnet wurde, welches Schicksal sie ihm zugedacht hatten: die Verbannung nach St. Helena.

Auf diesem kleinen, von etwa 2.000 Menschen bewohnten britischen Eiland mitten im Südatlantik, das nicht annähernd so gute Fluchtmöglichkeiten bot wie Elba, langte Napoleon am 16. Oktober 1815 nach einer reichlich zweimonatigen Überfahrt auf der „H.M.S. North-umberland“ an. In seiner Begleitung befand sich ein 28köpfiger „Hofstaat“, bestehend aus einigen Generälen und deren Frauen sowie dem irischen Chirurgen Barry O’Meara und zwölf Dienern, mit dem er im Dezember des gleichen Jahres die ehemalige Meierei Longwood House bezog. 

Vier Monate später erreichte dann auch Sir Hudson Lowe die Insel. Der Generalmajor fungierte nun als Gouverneur von St. Helena und oberster Gefangenenwärter Napoleons. Selbiger wiederum haßte den pedantischen Lowe sehr bald wie die Pest und forderte ihn durch ständig neue Provokationen heraus, welche dieser mit einer sukzessiven Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen beantwortete: Am Ende wurde der Verbannte schließlich zweimal am Tage kontrolliert und durfte sein eingezäuntes, schwer bewachtes Anwesen nicht mehr ohne militärische Eskorte verlassen. Darüber hinaus isolierte Lowe Napoleon, indem er die Mitglieder von dessen Entourage nach und nach von der Insel deportieren ließ, bis nur noch die beiden Generäle Henri-Gatien Bertrand und Charles-Tristan de Montholon übrigblieben.

Dabei waren die Vorsicht und die Konsequenz des Gouverneurs durchaus berechtigt, denn es gab diverse Pläne, den Ex-Kaiser, dessen Verbannung 1818 auf dem Aachener Kongreß noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde, von St. Helena wegzuholen – dabei machte sich der amerikanische Abenteurer Tom Johnson sogar anheischig, Napoleon mit einem U-Boot in die Freiheit zu schmuggeln.

Es kursierten Gerüchte von der Ermordung Napoleons

Allerdings litt der „Gefangene Europas“ nicht nur unter dem teilweise selbst mit verursachten strengen Regime Lowes sowie den klimatischen und hygienischen Bedingungen auf der überaus unwirtlichen Insel, die er als „trockene Guillotine“ bezeichnete, sondern auch unter gesundheitlichen Beschwerden, welche keinesfalls adäquat behandelt wurden. So plagten ihn seit Ende 1817 zunehmende Schmerzen im Oberbauch, welche sein neuer korsischer Leibarzt Franceso Antommarchi, der an die Stelle des ebenfalls ausgewiesenen O’Meara getreten war, mit Unmengen von Salmiak und Brechweinstein zu kurieren versuchte, obwohl Napoleon derlei Kurpfuscherei strikt ablehnte. 

Ja, mehr noch: weil sich der geschwächte Patient immer weniger zu wehren vermochte, erweiterte der hinzugezogene englische Militärchirurg Archibald Arnott die „Therapie“ noch um die Verabreichung weiterer untauglicher Mittel wie Quecksilberchlorid. Währenddessen ging es Napoleon immer schlechter. In den letzten fünf Monaten vor seinem Tode, der dann am 5. Mai 1821 eintrat, nahm er elf Kilo ab und erbrach immer häufiger eine schwarze, übelriechende Flüssigkeit.

Da der Ex-Kaiser mehrfach behauptet hatte, man versuche ihn zu vergiften, fand eine Obduktion statt, die Antommarchi durchführte. Von dieser Leichenschau existieren insgesamt vier Protokolle mit widersprüchlichem Inhalt: Antommarchi diagnostizierte eine chronische Leberentzündung, Magenkrebs und Lungentuberkulose, während die englischen Zeugen auf Anweisung Lowes, der keinerlei Kritik an den Lebensumständen seines prominenten Gefangenen aufkommen lassen wollte, nur Karzinome im Bauchraum sahen.

Trotzdem aber begannen bald Gerüchte von einer Ermordung Napoleons zu kursieren, welche nie wieder ganz verstummen sollten und besonders ab der Mitte des 20. Jahrhunderts neue Nahrung erhielten, als Wissenschaftler bei wiederholten Tests größere Mengen des Giftes Arsen in den erhalten gebliebenen Haaren des Toten fanden. Dabei herrscht freilich bis heute Uneinigkeit darüber, ob dies tatsächlich als Beweis für ein Verbrechen taugt. Immerhin könnte sich der Ex-Kaiser auch an den arsenhaltigen grünen Tapeten in seiner Unterkunft vergiftet haben – oder die Substanz wurde überhaupt erst nachträglich zur Konservierung der kostbaren „Reliquien“ verwendet. 

Andere Forscher hingegen vertreten die Meinung, daß eher die exzessiv verabreichten Brechmittel oder eine Amöbenruhr Napoleons Leben beendet haben. Ebenso finden sich neuerdings verstärkt Anhänger der Anfangsdiagnose Magenkrebs, wobei jetzt meist von einer Entstehung infolge der Einwirkung des Bakteriums Helicobacter pylori die Rede ist. Somit bleibt die Ursache des Todes des großen Korsen weiterhin Gegenstand lebhafter medizinhistorischer Debatten.