© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/15 / 03. Juli 2015

Annäherungen mit dem Sühnezeichen
Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner porträtiert das schwierige Verhältnis beider Länder
Thorsten Hinz

Das erste bilaterale Abkommen der teilsouveränen Bundesrepublik wurde am 10. September 1952 im Cercle Municipal in Luxemburg unterzeichnet. Die deutsche Unterschrift leistete Bundeskanzler Konrad Adenauer, der zugleich Außenminister war. Vertragspartner waren der Staat Israel und die Jewish Claims Conference. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, an Israel Waren im Wert von drei Milliarden D-Mark zu liefern und weitere 450 Millionen für jüdische NS-Opfer außerhalb Israels zu zahlen. 

Es gab kein Händeschütteln, keine Reden, nicht einmal Höflichkeitsfloskeln und erst recht keinen Sekt. Ein Foto, das die beiden Delegationen am Konferenztisch sich gegenübersitzend zeigt, läßt die frostige Atmosphäre während der Zeremonie erahnen.

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner beginnt sein Buch mit einer Beschreibung des Fotos. Es geht ihm nicht um die Chronologie und Darstellung der Vertragsverhandlungen, sondern er will die psychologischen, metapolitischen und religiösen Tiefenschichten der, wie er schreibt, „rituellen Distanz“ freilegen, die das Bild offenbart. Die Distanz ging – wenige Jahre nach dem Holocaust – von Israel aus. Adenauer, der das Wiedergutmachungsabkommen unbedingt wollte, konnte es nur mit den Stimmen der SPD durch den Bundestag bringen. Aber auch in Israel war es überaus umstritten. 

Kollektivschuld-Behauptung macht Diner zur Grundlage

Dafür sprach die Staatsräson, die Staatsgründer Ben Gurion vertrat. Es ging um das nackte Überleben des jungen jüdischen Staates, der wirtschaftlich und sozial darniederlag. Doch Deutschland war aus jüdischer Sicht auch „Amalek“, der biblische, unter Bann stehende Ultimativ-Feind. Verhandlungen mit ihm, ein Vertrag gar, wären eine Art der Anerkennung, „Amnestie und Amnesie“ wären die Folge. Die Deutschen sollten jedoch auf ewig, von Generation zu Generation, das Kainsmal tragen. Ihre Ächtung sei unaufhebbar, ihre Schuld dürfe sich nicht in abzahlbare Schulden verwandeln. „Tragt keinen ‘Huren- und keinen Hundelohn’ in das Haus Israel“, rief ein Knesset-Abgeordneter.

In der demonstrativen Distanz von Luxemburg drückte sich also auch ein innerisraelischer Konflikt aus. Er verlangte den Mitgliedern der israelischen Delegation viel ab. Sie waren gezwungen, sich selbst, ihre Herkunft, ihre Sprache zu verleugnen. Sie waren Deutsche, patriotische deutsche Bildungsbürger gewesen und wären das auch geblieben, wenn Hitler sich auf die Kunstmalerei beschränkt hätte. Das machte sie nun zu geeigneten Verhandlungsführern, in den Augen ihrer neuen Landsleute aber auch zu unsicheren Kantonisten. Sie sollten, so sah das vereinbarte Reglement es vor, mit der deutschen Delegation englisch oder französisch reden. Die künstliche Sprachbarriere ließ sich natürlich nicht aufrechterhalten. 

Einer der Neu-Israelis hatte bei dem Verwandten eines deutschen Delegationsmitglieds promoviert. Bei einem anderen mischte sich ein starker schwäbischer Akzent ins Englisch; es stellte sich heraus, daß er dasselbe Stuttgarter Realgymnasium besucht hatte wie sein Gegenüber. Ein dritter, dessen Vater es im Kaiserreich zum Major gebracht hatte, antwortete, als er in Israel scharf befragt wurde, in welcher Sprache er sich mit Adenauer unterhalten habe: „In der Sprache Goethes.“ Solche scheinbaren Nebensächlichkeiten lassen den Leser in einen Abgrund von Leid und Tragik blicken. 

Überhaupt ist das Eingangskapitel eine meisterliche Miniatur historischer, kultureller und ikonographischer Hermeneutik. Diner verfügt über einen nachgerade eleganten Stil; er kann komplexe Zusammenhänge in bildhafte Begriffe fassen; er argumentiert sprach-ethymologisch wie religionsgeschichtlich und stellt in souveräner Weise geistesgeschichtliche Bezüge her. Einfühlsam und überzeugend legt er dar, wie tief Deutschland in die israelische „DNA“ eingelassen ist.

Sein Buch soll vor allem die Perspektive Israels darstellen, aber natürlich geht sein Ehrgeiz viel weiter. Der Vertrag von 1952 sei auch für Deutschland ein „archaisch anmutender“, „konstitutiver“, ein „Gründungsakt“ gewesen. Er vollzog die „moralische Fundierung des neuen Gemeinwesens“, indem er dem jüdischen Volk für das an ihm „kollektiv verübte Verbrechen“ eine Würdigung durch „die legitimen Vertreter seiner vormaligen Peiniger“ verschaffte. Ganz nebenbei macht Diner die Kollektivschuld-Behauptung zur Grundlage des deutschen Selbstverständnisses und der bilateralen Beziehungen.

Damit beginnt der unangenehme Teil des Buches, in dem der Autor seine bekannten, um den Holocaust zentrierten geschichtspolitischen Thesen („Hohepriester der Holocaust-Religion“ JF 5/07; „Der Krieg der Erinnerungen geht weiter“, JF 31-32/08) auf die Ebene einer Politischen Theologie stemmt und durch sie das deutsch-israelische Verhältnis definiert. Er will – um mit Carl Schmitt zu sprechen – „eine vollkommene Identität“ entwerfen, die „durch die metaphysischen, politischen und soziologischen Vorstellungen hindurchgeht“ und einen „letzten Urheber“ postuliert. Zum „letzten Urheber“ oder Souverän werden der übergeschichtlich verstandene NS-Massenmord an den Juden bzw. seine berufenen Ausdeuter erhoben. 

Diner legt bei der Gelegenheit den Konflikt zwischen dem christlichen und dem jüdischen Verständnis von Schuld und Sühne offen, der auch in Luxemburg zu Differenzen führte. Im Christentum gelangt der Sünder durch reuiges Handeln zum Ausgleich mit den Menschen und zur Wiederaufrichtung vor Gott. Im jüdischen Verständnis entspricht die tätige Reue nur dem pekuniären Ausgleich und ist erst die Voraussetzung für ein Verzeihen und die Wiederaufrichtung, die im konkreten Fall in die Hand Israels gelegt ist.

Die Übersetzung dieser Politischen Theologie in die Praxis demonstrierte der israelische Staatspräsident Schimon Peres in seiner Rede am 27. Januar 2010 – dem offiziellen Holocaust-Gedenktag – vor dem Bundestag. Er begann sie mit einem „Kaddisch-Gebet im Namen des jüdischen Volkes, und zu Ehren und im Andenken an die sechs Millionen Juden, die zu Asche wurden“, um dann einen weiten Bogen bis zu Angela Merkel zu schlagen. Die Kanzlerin habe „die Herzen unseres Volkes mit (ihrer) Aufrichtigkeit und Wärme erobert. Sie (erklärte) vor den beiden Kammern des US-amerikanischen Kongresses: ‘Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich.’“ Amalek, dem Ultimativ-Feind, steht also die Aussicht auf Erlösung vom Bann offen, sofern er sein Selbstinteresse mit dem des Verfluchers identifiziert, es also quasi auslöscht.

Trotz des Abkommens sei „kaum eine Sühne denkbar“

Ausgerechnet Konrad Adenauer zieht Diner als Kronzeugen heran. Der israelische Delegationsleiter in Luxemburg, Außenminister Mosche Scharett, hatte im Manuskript seiner geplanten, aber nicht gehaltenen Rede erklärt, trotz des Abkommens sei „kaum eine Sühne denkbar“ für das Geschehene. Adenauer lehnte die Aussage kategorisch ab. Zwar könne er persönlich „mit einer solchen Formulierung leben, das von ihm repräsentierte Volk hingegen nicht“. Bei Diner erscheint der Kanzler als jemand, der den israelischen Standpunkt als richtig anerkannte und ihm nur aus Rücksicht auf seine Wähler nicht beitrat. Das ist eine gezielte Fehlinterpretation. 

Die zitierte Äußerung war eine Höflichkeitsbekundung, die besagt, daß Adenauer die israelische Haltung für menschlich nachvollziehbar, sie politisch aber für unannehmbar hielt. Er hatte die „theologisch-politischen Abgründe“ (Dan Diner), die hier für Deutschland klafften, instinktsicher erfaßt und hütete sich vor dem Schritt über die Klippe. Den definitiven Beweis lieferte der greise Altkanzler 1966 beim Besuch in Israel. Als Ministerpräsident Levi Eschkol in seiner Tischrede ähnliche Formulierungen gebrauchte wie Außenminister Scharett 1952, da reagierte er, der kein Wählervotum mehr brauchte, außerordentlich heftig und drohte mit der sofortigen Abreise. Diner unterschlägt diese Szene.

Das Buch erschien anläßlich des 50. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel und ist der vorausgeschickte Teil eines größeren Werks über jüdische Lebenswelten in der Moderne. Auf dieses Werk von Dan Diner darf man gespannt sein.

Dan Diner: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, gebunden, 167 Seiten, 19,99 Euro