© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Luckes Erben
AfD-Parteitag: Unter Schmerzen vollzieht die Partei in Essen den Wechsel zu Frauke Petry
Marcus Schmidt / Hinrich Rohbohm

Um 11.30 Uhr am Sonnabend gab es die erste Krisensitzung. AfD-Chef Bernd Lucke nahm die Europaabgeordnete Ulrike Trebesius beiseite und zog sich mit ihr in einen abgesperrten Winkel der Essener Grugahalle zurück. Zu diesem Zeitpunkt, gestand Lucke später, war ihm bereits klar, daß er keine Chance mehr auf eine Wiederwahl hatte. Er würde den seit Monaten tobenden Machtkampf mit seiner Co-Sprecherin Frauke Petry verlieren. Zu eindeutig gegen Lucke, zu aggressiv, war zu diesem Zeitpunkt bereits die Stimmung der mehr als 3.500 in Essen versammelten AfD-Mitglieder.

Eine Schlüsselrolle spielte bei der Entscheidung der Landesverband Nord-rhein-Westfalen des Petry-Vertrauten Marcus Pretzell. Der Verband stellt allein 20 Prozent der AfD-Mitglieder und hatte in Essen den Heimvorteil. Mehr als 800 von ihnen sind trotz des Sommerwetters zum Parteitag gekommen. Eine Befragung quer durch die NRW-Kreisverbände am Sonnabend zeigte schnell: Eine Mehrheit für Lucke ist hier nicht vorhanden. 50 zu 50 ist noch die positivste Einschätzung. Die meisten jedoch sehen in ihrem Kreisverband eine 60-zu-40-Mehrheit für Petry. Eine Einschätzung, die dem späteren Abstimmungsergebnis sehr nahe kommen wird. „Wenn wir in NRW keine Mehrheit haben, dann haben wir ein Problem“, prophezeit ein Aktivist des von Lucke gegründeten Vereins „Weckruf 2015“ noch tags zuvor auf einem Vorbereitungstreffen der Lucke-Anhänger in der Essener Dampfbrauerei. 

„Wir haben Bernd Lucke immer unterstützt, er ist das Aushängeschild der AfD,“, sagt am Sonnabend ein Ehepaar aus Ostwestfalen. Geändert habe sich das vor allem aus zwei Gründen. „Lucke hätte nach dem knappen Sieg auf dem Satzungsparteitag in Bremen nicht so ausgiebig jubeln dürfen. Das kam wie ein ‘Ätsch, ich hab’s euch gezeigt’ rüber, das hat uns gar nicht gefallen.“ Zudem hätten sie den Weckruf als Spaltung von der Partei empfunden. „Viele bei uns sind von Frau Petry keinesfalls überzeugt. Es ist vielmehr eine Anti-Lucke-Wahl“, sagten Mitglieder aus dem gastgebenden Kreisverband Essen und führen die gleichen Gründe hierfür an.

Auch der niedersächsische Landesvorsitzende Armin-Paul Hampel sagt, er habe nach dem Bremer Parteitag seine Meinung über Lucke geändert. „Zähneknirschend“ habe er der Satzung zugestimmt. Aus Solidarität zu Lucke, wie er sagt. „Aber warum mußte er danach noch übertrieben jubelnd auf der Bühne rumhüpfen“, ärgert sich der ehemalige ARD-Korrespondent.

Für Frauke Petry ein entscheidender Grund, sich unmittelbar nach ihrem Sieg anders zu verhalten. Sie erhebt sich von ihrem Platz, geht zur Mitte der Bühne, bleibt stehen, blickt dankbar in die ihr zujubelnde Menge. Kein Winken, keine großen Gesten. Petry, wie auch der mit über 80 Prozent zum ersten Stellvertreter gewählte Alexander Gauland wollen unter allen Umständen die Gräben zwischen den verfeindeten Lagern nicht weiter vertiefen. Fast schon flehend fragt sie den zum Weckruf gehörenden Joachim Starbatty, ob er sich als Co-Vorsitzender neben ihr zur Verfügung stellen wolle. Keine Reaktion. Sie will ihm Zeit geben, um es sich „in Ruhe überlegen“ zu können. 

Doch der Wirtschaftsprofessor will nicht, ist vom Stil und der rauhen Tonart, den lauten Pfiffen, Buh-und Schmährufen gegen Bernd Lucke entsetzt. „Das macht es einem schwer, zu bleiben“, sagt er der JUNGEN FREIHEIT und gesteht: „Das Ergebnis war für mich wie eine kalte Dusche.“ 

Eine solche bekommt auch Bernd Lucke zu spüren. Beim Vortrag seines Rechenschaftsberichts sind die Pfiffe und Buhrufe noch lauter als bei seiner Begrüßungsrede. Als er auf die Asyldebatte zu sprechen kommt und zwischen Scheinasylanten sowie tatsächlich um ihr Leben fürchten müssenden Verfolgten zu differenzieren versucht, wird er derart heftig niedergebrüllt, daß er seine Rede zunächst unterbrechen muß. Immer wieder ermahnt das Tagungspräsidium zur Fairneß. Zumeist vergeblich. Lucke blickt fassungslos in die Menge in der Halle.

Nach der Niederlage am Sonnabend ist daher nicht einmal Lucke selbst klar, ob er zum zweiten Tag des Parteitages überhaupt noch erscheint. Doch nachdem am Sonntag morgen ein Mitarbeiter der Partei bereits symbolträchtig das Schild mit der Aufschrift „Lucke“ vom Vorstandstisch geräumt hatte, betritt Lucke mit seiner Frau die Halle und nimmt unter den Mitgliedern Platz. Einige versuchen ihn davon zu überzeugen, die Partei nicht zu verlassen, bei anderen führt Luckes bloße Anwesenheit zu heftigen Reaktionen, die schließlich in einem Tumult münden. Der Parteitag muß unterbrochen werden. Schließlich verläßt die einstige Galionsfigur der Partei gedemütigt die Halle. Am Morgen hatte er, wie am Tag zuvor Trebesius, den neuen Co-Sprecher Jörg Meuthen beiseite genommen und minutenlang auf ihn eingeredet. 

Auch viele andere Weckrufler warten die Wahl des restlichen Vorstandes am zweiten Tag gar nicht mehr ab. In der Halle kursieren Gerüchte, daß von den verbliebenen einige bewußt die Kandidaten wählen wollen, die von der neuen Parteiführung nicht gewollt werden. In diesem Zusammenhang fallen immer wieder die Namen des AfD-Chefs von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, und des Chefs der Patriotischen Plattform, Hans-Thomas Tillschneider. Beide werden von Thüringens Landeschef Björn Höcke unterstützt und gehören dem „Flügel“ an, dem Zusammenschluß der Unterzeichner der „Erfurter Resolution“. Der Flügel hatte die Wahl Petrys unterstützt. Höcke hatte die sächsische Fraktionschefin dennoch am Vorabend als „kleiners Übel“ bezeichnet. Eine Äußerung, die im Petry-Lager nicht gut aufgenommen wurde. Dort war man offenbar schon zu diesem Zeitpunkt entschlossen, Poggenburg und Tillschneider zu verhindern und damit ein Zeichen gegen den von Lucke immer wieder beschworenen „Rechtsruck“ zu setzen. Am Ende gelang dieses Manöver nur halb. Poggenburg setzte sich erst im zweiten Wahlgang durch. Tillschneider zog seine Kandidatur schließlich zurück. Aber die Wahl Poggenburgs war für viele Weckrufler Anlaß genug, sich in ihren Befürchtungen bestätigt zu sehen, die AfD kippe nach rechts.

Frauke Petry weiß zu diesem Zeitpunkt längst, welch schweres Erbe sie angetreten hat.   

Foto: Tausende AfD-Mitglieder während des Parteitages am vergangenen Wochenende in Essen: „Wir haben Bernd Lucke immer unterstützt“