© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Grüße aus Wien
Flucht oder Kampf
René-Lysander Scheibe

Den Wiener plagen das ganze Jahr über Fährnisse, Mißgunst, die Fremden, die Obrigkeit und die lästige Unterschicht.  Einzig der Blick auf den Kontoauszug des „Wiener Vereins“, einer Bestattungskostenversicherung, vermittelt etwas Gelassenheit und einen Moment seliger Zuversicht: Das eigene Begräbnis erster Klasse mit echtem Organisten und neun großen Kerzen ist gesichert!

Aber jetzt, da die Schulen zugesperrt sind, die eigenen und nachbarlichen Blagen unbeschäftigt herumvegetieren und, den Blick auf ihr Handy gerichtet, gegen Parkschilder oder einem vor das Automobil laufen. Jetzt, da es heiß ist oder gewittrig oder zuerst unerträglich heiß und dann auf dem Heimweg vom Heurigen oder Biergarten das Gewitter wie ein junger Rachegott herniederfegt – jetzt stehen Wienerin und Wiener vor der existentiellen Frage: Kämpfen oder llüchten?

Zu kämpfen wie 1683 anläßlich der zweiten Türkenbelagerung vermag der Donauansiedler nicht mehr, vor allem ist er zu träge. Hat er die üblichen zwei Wochen an einem Badeort der Adria absolviert oder spart er noch dafür an, so sinnt er auf die kleine oder größere Niedertracht an jemandem, der sich schlecht wehren kann. Einem Touristen vorzugsweise. 

Keine Wienerin, kein Wiener – selbst taub und blind – würde sich das antun lassen.

Der immer noch häufigste Tourist in Wien ist der Deutsche oder Piefke. Der Piefke wird zwar generell verachtet (Oberbayern etwas weniger), aber er spricht eine ähnliche Sprache und jedenfalls nicht ausländisch. Das Ausnehmen des bundesrepublikanischen Gastes ist ein Ganzjahressport. 

Aber Sommer ist immer Höchstsaison. Schnitzel, so dünn geklopft als seien sie mit einem Mikrotom geschnitten, Würstl, die seit Stunden warmgehalten wurden und überteuertes Dosenbier. Rund um den Stephansdom eigenartige Gestalten in schlechtgemachten Rokokoröcken, die Karten zu „Mozartkonzerten“ feilbieten. Kein Wiener – selbst taub und blind – würde sich das antun lassen. Ein neuer Trend sei nicht verschwiegen. Die goldne Wienerstadt hat die Internetwohn-Plattform airbnb entdeckt, und gerade die Hausherren und Wohnungsbesitzer in den zentralen Lagen vermieten gern an Steuern und Taxen vorbei das Kabinett an einen Ruhrpottler samt Anhang. Doch ist man bei dessen Ankunft gerne nicht zugegen, so daß der von hitziger Anreise Ermattete bisweilen stundenlang andere Hausparteien anflehen muß, doch wenigstens Zugang zum schattigen Stiegenhaus zu erlangen.