© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Es läuft nicht mehr wie geschmiert
Außenhandel: EU-Sanktionspolitik gegen Rußland schadet Deutschland / Milliardenverluste drohen
Thomas Fasbender

Seit März 2014 versucht die EU, mittels Handelsbeschränkungen und Finanzsanktionen Rußland in der Ukraine-Krise zum Einlenken zu zwingen. Gleichzeitig wuchs die Hoffnung, daß der eingebrochene Ölpreis und der Rubelabsturz Moskau zusätzlich in die Bredouille bringen würden. Der Preis für ein Faß der Sorte Brent fiel von 115 Dollar (Juli 2014) auf unter 50 Dollar (Dezember 2014). Für einen Dollar mußten vor einem Jahr nur 35 Rubel hingeblättert werden, sechs Monate später waren es in der Spitze 70 Rubel.

Doch die beiden Effekte hoben sich gegenseitig auf: „Die Abwertung des Rubels gegenüber dem Dollar hat dazu geführt, daß Rußland trotz des niedrigen Preises für das schwarze Gold gut zurechtkommt“, analysierte das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Da der Ölhandel meist in Dollar abgewickelt wird, erlöste Rußland zwar nur halb so viele Dollar, aber wegen des gesunkenen Devisenkurses fast doppelt so viele Rubel wie zuvor. „Unter dem Strich sind die Rubeleinnahmen also konstant geblieben und Rußland kann seine Staatsausgaben wie gewohnt aus seinen Öleinnahmen finanzieren“, so das IW. „Die Einfuhr ausländischer Güter hat sich jedoch massiv verteuert. Schon deswegen kaufen die Russen inzwischen häufiger heimische Produkte – made in EU ist den Konsumenten und Investoren oft schlicht zu teuer.“

Hinzu kommt das russische Import­embargo für Lebensmittel aus der EU, die wie die Brüsseler Sanktionen vorerst bis Ende Januar 2016 gelten sollen. Viele deutsche Milchbauern sind daher existentiell bedroht (JF 27/15), aber auch die Exportindustrie spürt die realen Auswirkungen der Sanktionspolitik.

Eine Studie des Wiener Wifo-Instituts für den Rechercheverbund Leading European Newspaper Alliance (Lena) warnt sogar vor einer dramatischen Entwicklung. Die Wissenschaftler nahmen dabei das erste Quartal 2015 als Basis für ihre Prognosen. Damals liefen die meisten Altverträge mit russischen Kunden aus, Rubelkrise und Inflation schlugen voll durch, und die russische Wirtschaft begann, sich auf einen langen Konflikt mit dem Westen einzustellen.

Seither brachen quer durch die EU die Rußlandexporte um ein Drittel ein. In den baltischen Ländern lagen die Einbußen noch deutlich darüber. Das Wifo rechnet mit einem Minus an EU-Wertschöpfung in Höhe von 100 Milliarden Euro, mittelfristig seien zwei Millionen Arbeitsplätze bedroht. Die mit einem Stellenverlust von 265.000 am stärksten betroffene Branche ist demnach der Nahrungsmittel- und Agrarsektor.

Chinesische Wirtschaft profitiert von Konfliktlage

Die deutschen Rußlandausfuhren machten vor der Krise zwar nur drei Prozent der Gesamtexporte aus – das sind immerhin fast 30 Milliarden Euro Wertschöpfung und eine halbe Million Arbeitsplätze. Ein großer Teil dieser Last entfällt zudem auf Mittelständler. Weit über 6.000 deutsche Unternehmen sind in Rußland ansässig, und nur der kleinere Teil davon sind große, internationale Konzerne. In Summe, so die Wifo-Forscher, liegt das deutsche Risiko bei einem Prozent der Wirtschaftsleistung.

Für die chinesische Wirtschaft dagegen sind die westlichen Sanktionen eine Einladung auf dem Silbertablett. Kürzlich wurde der Vertrag zum Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Moskau über Kasan nach Jekaterinburg mit einem chinesisch-russischen Konsortium unterzeichnet. Noch zu Beginn der Ukrainekrise waren deutsche Anbieter sicher, diesen Auftrag so gut wie „im Sack“ zu haben. Inzwischen haben Rubel und Ölpreis im Vergleich zum ersten Quartal um einiges angezogen. Der russische Leitzins liegt mit 11,5 Prozent fast wieder auf dem gleichen Niveau wie vor dem großen Rubelkrach im Dezember.

Rußland wird jedoch weiter an der Distanz zum Westen festhalten, und das unabhängig davon, ob sein Präsident Wladimir Putin heißt oder nicht. Zu tief sitzt der Schock aus dem vergangenen Jahr, als plötzlich sogar der Ausschluß aus dem internationalen Finanztransaktionssystem Swift drohte. Ein wichtiges Motiv für die angestrebte Zusammenarbeit mit China ist daher die gemeinsame Entwicklung alternativer Systeme zur vom Westen dominierten Informations- und Finanzinfrastruktur. Der massiv ausgeweitete Ölhandel zwischen Rußland und China wird künftig nicht mehr in Dollar, sondern in chinesischen Renminbi (Yuan) abgewickelt.

Die anhaltenden Goldkäufe der russischen Zentralbank sind ebenso ein Indiz für diese neue Autarkiepolitik wie die Ankündigung, die Devisenreserven bis 2018 auf 500 Milliarden US-Dollar zu steigern – wenn es sein muß auch um den Preis der Austerität.

Hatte man jahrelang versäumt, die Wirtschaft aus der einseitigen Abhängigkeit von Energieexporten zu befreien, so geschieht das jetzt, krisenbedingt, unter dem Motto Importsubstitution. Russische Politiker und Ökonomen diskutieren, welche Rolle die Wirtschaft im Rahmen einer auf Unabhängigkeit und Selbsterhalt zielenden gesellschaftlichen Mobilisierung spielen kann. Sogar Vertreter der wirtschaftsliberalen Fraktion sehen keine Alternative.

Auch der Ostausschuß der deutschen Wirtschaft klingt wenig optimistisch. Sein Vorsitzender Eckhard Cordes, der vor einem Jahr noch den „Primat der Politik“ beschworen hat, hält das erste Quartal 2015 inzwischen für einen „guten Gradmesser“ zur Lagebeurteilung: „Bis dahin waren wir seit dem Frühjahr 2014 im Sinkflug. Jetzt könnte der Boden erreicht sein. Genau wissen wir es aber noch nicht.“ Und was den Aufsichtsratschef des Baukonzerns Bilfinger wohl zu Recht umtreibt: „Wir hören immer öfter, so viel schlechter als die Deutschen seien die Chinesen auch nicht.“

Liste der Handelsbeschränkungen und Finanzsanktionen der EU gegen Rußland:  ausfuhrkontrolle.info



Auswirkungen des Ölpreisverfalls

Derzeit schwankt der Ölpreis für ein Faß der Sorte Brent zwischen 60 und 65 Dollar. Das sorgt vor allem Kanada und Saudi-Arabien, die einen Preis von mindestens 112 bzw. 69 Dollar benötigen, um eine ausgeglichene Außenhandelsbilanz vorzuweisen. Der Irak (62 Dollar) und Nigeria (59 Dollar) können mit dem momentanen Preisniveau gerade so leben. Für Rußland und Venezuela (jeweils 43 Dollar) könnte der Preis sogar noch weiter fallen – deren Handelsbilanzen wären immer noch im Plus. „In der Realität liegt dieser Schwellenwert voraussichtlich noch niedriger, weil durch die Rubelabwertung höhere Exporte – bei niedrigeren Importen – zu erwarten sind“, heißt es in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Die Emirate (VAE) benötigen 30 und der Iran elf Dollar pro Barrel. Kuwait reichen lediglich fünf Dollar, „weil es wegen seiner massiven Ölausfuhren einen Handelsbilanzüberschuß von aktuell 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausweist“, so das IW.

Analyse des IW Köln im „iwd“ 25/15: www.iwkoeln.de