© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Oben König, unten Knecht
Alpinismus: Seit alters her steigen Menschen aus unterschiedlichen Gründen auf Berge
Wolfgang Kaufmann

Auf die Berge steigt der Mensch bereits seit alters her – sei es, um seinen Göttern nahe zu sein wie die Inkas, die so am Cerro Llullaillaco schon fast bis auf 7.000 Meter Höhe gelangten, sei es, um Krieg zu führen, wie der karthagische Feldherr Hannibal, der 218 v. Chr. die Alpen überquerte und hernach das überrumpelte Rom attackierte.

Zunächst lockte also nicht der Reiz beziehungsweise Wert der Berglandschaft an sich. Diesen entdeckte wohl erst der italienische Mitbegründer des Humanismus Francesco Petrarca. Der Dichter und Geschichtsschreiber erklomm 1336 den Mont Ventoux in der Provence, einzig und allein getrieben „von der Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Fleckens Erde durch Augenschein kennenzulernen“. Deshalb gilt Petrarca heute auch als der Urvater des Bergsteigens.

Später dann, in der Epoche der Aufklärung, kam das wissenschaftliche Interesse an den Verhältnissen in den Bergen hinzu. So initiierte der Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure die erste Besteigung des zwischen Frankreich und Italien gelegenen Mont Blanc und quälte sich selbst 1787 auf den Gipfel, wo er Luftdruck, Temperatur und dergleichen maß und zu der Erkenntnis kam, daß er auf der höchsten Erhebung Europas stehe. Ähnlich verfuhr der deutsche Universalgelehrte Alexander von Humboldt, der 1802 mehrmals in die eisige Unwirtlichkeit der Anden vordrang, um seinem Erkenntnisinteresse zu frönen.

Einige Jahrzehnte darauf erlangten die Berge wiederum eine neue Wertigkeit: Mit Fortgang der industriellen Revolution, welche nicht zuletzt auch zu einer Beschleunigung des Urbanisierungsprozesses führte, suchten diejenigen, die es sich leisten konnten, nach Herausforderungen in der unberührten Natur. In diesem Zusammenhang entdeckten einige sportlich ambitionierte Briten die Alpen für sich und machten sie nachfolgend zum „Playground of Europe“ – so der Titel eines sehr populären Buches aus dem 19. Jahrhundert des englischen Historikers und Bergsteigers Leslie Stephen.

Damit brach um 1840 herum das sogenannte „Goldene Zeitalter des Alpinismus“ an, in dessen Verlauf solch markante Gipfel wie Mönch, Eiger, Monte Rosa, Grand Combin, Dent Blanche und Marmolada fielen. Und zwar einfach „weil sie da waren“ (wie es der später am Mount Everest verschollene George H. Leigh Mallory einmal lakonisch ausdrückte) und Gelegenheit boten, genuin männliche Tugenden zu demonstrieren, die im durchorganisierten, rational-utilitaristisch geprägten Alltag des Frühkapitalismus sonst kaum noch entwickelt und kultiviert werden konnten – es sei denn im Krieg.

Einer von denen, die sich damals in den Bergen beweisen wollten, war der in London in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Edward Whymper, der als Buchillustrator arbeitete und den Auftrag hatte, Zeichnungen von der Alpenlandschaft anzufertigen. Hierbei entdeckte er sein bergsteigerisches Talent, das sich ab 1860 in einer ganzen Reihe von spektakulären Gipfelsiegen äußerte, die ihn schließlich im Juli 1865, also vor 150 Jahren, dazu ermutigten, das bis dahin noch unbestiegene Matterhorn anzugehen. Dies wiederum führte zu einem Wettlauf mit dem italienischen Bergführer Jean-Antoine Carrel, der ebenfalls als erster auf der 4.478 Meter hohen Gneispyramide stehen wollte.

Infolge des so verursachten Zeitdrucks machte Whymper zahlreiche fatale Kompromisse, was die Zusammensetzung seiner Seilschaft und die Ausrüstung betraf. Zwar konnte er sich der Dienste der renommierten Bergführer Michel Croz und Peter Taugwalder senior versichern, zu denen mit Reverend Charles Hudson, Lord Francis Douglas und Peter Taugwalder junior noch einige weitere kompetente Begleiter stießen, erlaubte aber letztlich auch dem völlig unerfahrenen Douglas Hadow, an der Aktion teilzunehmen. Zudem waren nur zwei der drei mitgeführten Manilahanfseile stark genug.

Dennoch ging zunächst alles gut. Am 14. Juli 1865 erreichte die Siebener-Gruppe bei allerbestem Wetter über den Hörnli-Grat von der schweizerischen Seite aus den Gipfel, während Carrels Gruppe in etwa 4.200 Metern Höhe festsaß. Danach freilich ereignete sich beim Abstieg die mehr oder weniger vorhersehbare Katastrophe. Hadow, der zu allem Überfluß auch noch völlig unbrauchbare Schuhe trug, rutschte kurz unterhalb des Gipfels ab und riß den Franzosen Croz, Hudson und Douglas mit in den Tod, weil das zu dünne Verbindungsseil zwischen den Vieren und dem sichernden Bergführer Taugwalder senior der plötzlichen Belastung nicht standhielt.

Das führte dazu, daß keiner der Überlebenden seinen Triumph genießen konnte. So schwebte der Vorwurf über Whymper und dem älteren Taugwalder, das Seil durchgeschnitten zu haben, um das eigene Leben zu retten. Daran änderte auch das Urteil des Bezirksgerichtes Visp nichts, welches besagte, daß niemand rechtswidrig vorgegangen sei. Aus diesem Grunde war Taugwalders Ruf als Bergführer ein für allemal ruiniert – ihm blieb am Ende nur noch die Emigration in die USA. Ebenso geriet Whymper in die Rolle eines gesellschaftlichen Außenseiters, was unter anderem aus seinen späteren, grob unfairen Anwürfen gegenüber Taugwalder senior resultierte.

Die Erstbesteigung des Matterhorns, des letzten unbezwungenen Viertausenders der Alpen, wurde trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihres tragischen und immer noch nicht hundertprozentig geklärten Ausgangs zur Initialzündung eines Massenansturms auf das größte Hochgebirge Europas, der bis heute anhält. Dieser stand dann seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Motto „Hier oben bin ich König, im Tal da bin ich Knecht“.

Deshalb bleibt das Grummeln einiger Bedenkenträger vom Schlage Reinhold Messners, welche die Berge gebetsmühlenartig für überlaufen erklären, letztlich weitgehend wirkungslos: Der Wunsch der Menschen, wenigstens ab und an das Gefühl von Freiheit und Distanz zu den unerfreulichen Zuständen in den Niederungen zu spüren, läßt sich eben kaum wirksam unterdrücken. Das erkannte sogar schon die englische Königin Victoria, die angesichts des Todes von Hudson, Douglas und Hadow zunächst geneigt gewesen war, ihren Untertanen zu verbieten, nochmals wertvolles britisches Blut bei der Besteigung des Matterhorns in Gefahr zu bringen.