© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

An der Dämonisierung Deutschlands arbeiten
Feindbilder vor 1914: Der Science-fiction-Autor H. G. Wells als präziser politischer Seismograph
Oliver Busch

Für Maximilian Harden, den einflußreichsten Publizisten des Kaiserreiches, markiert die „Krüger-Depesche“, mit der Wilhelm II. im Januar 1896 die Buren zur erfolgreichen Abwehr einer britischen Intervention beglückwünschte, den Beginn der „Einkreisung“ Deutschlands. Mit diesem Telegramm habe der Monarch Englands Mißtrauen entfacht, das „nie mehr geschwunden“ sei, so daß die Briten sich dann sukzessive in jene französisch-russische Bündniskonstellation einfügten, mit der sich das Deutsche Reich im August 1914 konfrontiert sah.

Hardens Deutung, die der geschworene Feind des letzten deutschen Kaisers vor Menschenaltern im feuilletonistischen Rückblick auf die Weltpolitik zwischen 1871 und 1918 präsentierte („Von Versailles nach Versailles“, Wien 1927), scheint sich heute dank der monumentalen Wilhelm-II-Biographie des Briten John C. G. Röhl zum Allgemeinwissen verfestigt zu haben. Ein autokratischer Kaiser, der zudem das Empire mit seinem fieberhaften Schlachtflottenbau herausforderte, trägt in diesem Konstrukt die Verantwortung für die in einen Weltkrieg mündende Feindschaft der Londoner Führungseliten.

Hingegen kann für den Göttinger Anglisten Heinz-Joachim Müllenbrock die internationale Politik vor 1914 so simpel nicht abgelaufen sein wie Harden und sein Kolporteur Röhl es unterstellen (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 55/2014). Zu viele Indizien sprechen für eine vom Agieren Wilhelms II. gänzlich unbeeindruckte, seit 1871 manifeste britische Gegnerschaft dem Deutschen Reich gegenüber. Am besten lasse sich diese Hypothese im Spiegel der öffentlichen Meinung überprüfen. 

Gestützt auf die umfangreiche Studie Dominik Gepperts von 2007 über „Pressekriege, Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912)“ weist Müllenbrock daher darauf hin, daß alle vermeintlich dem unberechenbaren „persönlichen Regiment“ des Kaisers und seiner willfährigen Berliner Diplomatie anzulastenden „Krisen“, von Südafrika über Venezuela bis Marokko, der Meinung machenden konservativen Presse Englands nur willkommene Anlässe für ihre deutschfeindlichen Kampagnen lieferten.

Spätestens seit 1905, als mit dem „Liberal Imperialist“ Edward Grey ein profilierter Deutschenhasser den Kurs der Außenpolitik bestimmte, gab es keine Chance mehr, verträgliche deutsch-britische Beziehungen herzustellen. Grey habe, mit Rückendeckung von Times, Spectator und National Review, seine germanophoben Neigungen zur „rigiden Richtschnur seines politischen Handelns“ gemacht. Wie die Herausgeber dieser Blätter, die eifrig an der „Dämonisierung Deutschlands“ arbeiteten, gehörte Grey der „Gedankenschmiede“ der „Coefficients“ an, einem Londoner Debattierklub, der Politiker, Militärs und Journalisten vereinte, die Deutschlands ökonomische Entwicklung als Gefahr für das Empire taxierten.

In diesem multimedial-publizistischen Netzwerk, das von den elitären „Coefficients“ geknüpft worden sei, habe der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, heute nur noch als Verfasser von Science-fiction-Romanen wie „Der Krieg der Welten“ oder „Die Zeitmaschine“ bekannte Herbert George Wells (1866–1946) einen wichtigen Part im „nationalen Willensbildungsprozeß“ übernommen.

Politische Prostitution von Literatur in England

Wells, einer der prominentesten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit, stellte ein doppeltes Potential als Journalist und Literat in den Dienst der antideutschen Sache. Sein umfangreiches literarisches Werk, nach seinem Tod zumeist ohne zeithistorischen Entstehungskontext rezipiert, fungierte bis zum Ersten Weltkrieg als Multiplikator bei der Positionierung Englands gegen Deutschland. Eine derartige politische Prostitution von Literatur fand dann in der Indienstnahme der Presse ihre Entsprechung, die im vielbeschworenen „Mutterland der Demokratie“ alles andere als „unabhängig“ gewesen sei. 

Denn Journalisten bewegten sich in einer „festgefügten kommunikativen Gemeinschaft“, die wiederum symbiotisch mit Politik und Wirtschaft verbunden war. Dem Romancier Wells komme in diesem Milieu daher mit seinen literarischen Projektionen des deutsch-englischen Verhältnisses durchaus die Bedeutung eines „präzisen politischen Seismographen“ zu. Zwar lassen sich seit 1899, als der Zukunftsroman „When the Sleeper Wakes“ erschien, immer wieder moderate Bewertungen Deutschlands nachweisen.

Doch es dominiere das Stereotyp vom militaristischen Preußen-Deutschland, dem Wells auch in seinem „giftigsten Propagandawerk“, „The War in the Air“ (1908), der Prophetie vom deutschen Griff nach der Weltmacht treu bleibe, die einen Luftflottenangriff auf die USA voraussieht. Erst 1913 glaubt Müllenbrock eine „veränderte Tonlage“ bei Wells wahrzunehmen, die mehr in Rußland als in Deutschland die „Verkörperung eines aggressiven Expansionismus“ sehen will. Von einem „radikalen Umschwung“ Deutschland gegenüber zeuge dies aber nicht. Und es fiel öffentlich weniger ins Gewicht, da andere, wie der Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle oder der mit seinem „Dschungelbuch“ ebenfalls apolitisch wirkende Rudyard Kipling, den einstigen Scharfmacher Wells ausgezeichnet ersetzten.