© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Der Flaneur
Tierwelt und Menschenwelt
Paul Leonhard

Menschen spähen über eine Hecke. Irgend etwas gibt es dort zu sehen. Tatsächlich, im Gras des Palaisteichs liegen zwei imposante weiße Vögel und um sie herum drei kleine graue. Die Schwäne im Großen Garten haben Nachwuchs bekommen, na so was. Warum nur diese Aufregung?

„Das Kleinste kommt nicht aus dem Wasser raus, es schwimmt schon seit Stunden am Ufer hin und her“, erklärt eine Rentnerin, den Tränen nahe. „Sehen Sie, die Uferböschung ist viel zu hoch, vielleicht haben die Wasser abgelassen?“ Ob sie nicht den benachbarten Zoo alarmieren soll, fragt die Dame ihren Kurt. Der nimmt den Blick vom kurzen Rock einer jungen Frau und meint lakonisch: „Warum nicht gleich die Polizei oder Feuerwehr?“ Das Tierchen werde schon lernen, wie es aus dem Wasser komme. „Aber es ist doch so klein“, entgegnet seine Frau. Auch andere sinnen über die Grausamkeit der Natur. Denn es ist augenscheinlich, daß das Küken bald ertrinken muß. Würde der Ganter nicht ab und an zischen, wenn sich ein Neugieriger zu weit über die Hecke beugt, sie alle würden das graue Wasser nicht scheuen, um den kleinen Schwan ans rettende Ufer zu tragen.

Der kleine Schwan hat es geschafft. Er watschelt an Land. Die Menge zerstreut sich.

Für neuen Schwung in der Angelegenheit sorgt ein anderes graues Küken, das über die Ententreppe läuft und sich ins Wasser fallenläßt. Es schwimmt ein paar Meter, nimmt Anlauf und hüpft zurück auf die Rampe. „Na also, es geht doch“, sagt Kurt zufrieden zu seiner Frau und hält nach dem Blickfang von vorhin Ausschau. Sie schaut ihren Mann ernst an. Dann ein allgemeines Aufatmen ringsherum: Der kleine Schwan hat es geschafft. Er watschelt an Land. Die gaffende Menge zerstreut sich erfreut.

Inzwischen schwimmt ein anderes Junges im Wasser. Immer am Ufer auf und ab. Es fiept kläglich. „Mama, das Küken kommt nicht aus dem Wasser“, ruft ein Kind. Die Eltern eilen herbei, dann die Großeltern. Eine Tragödie. Weitere Passanten sammeln sich. Man drängelt und stellt sich auf die Zehenspitzen.