© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

In den Reichsgrenzen von 1937
Die Potsdamer Konferenz vor siebzig Jahren bewahrte Deutschland als Ganzes
Klaus Noack

Am späten Nachmittag des 17. Juli im unerträglich heißen Sommer 1945 trafen sich im kronprinzlichen Potsdamer Cecilienhof die Sieger des Zweiten Weltkrieges, um über das Schicksal des geschlagenen Großdeutschen Reiches zu beraten. Atmosphärisches spielte bei der Wahl des Konferenzortes zwar eine Nebenrolle, da man eigentlich in der Reichshauptstadt tagen wollte, wegen der kriegsbedingten Verwüstungen dort aber keinen passenden Ort fand. Die Notlösung Potsdam schien dann im Rückblick des Generals Lucius D. Clay, des ersten US-Militärgouverneurs im viergeteilten Berlin, trotzdem symbolisch zwingend gewesen zu sein, da gerade hier über das weitere Schicksal Deutschlands zu entscheiden war, „in der Stadt der preußischen Könige, wo der deutsche Angriffsgeist seinen Ursprung genommen hatte“.

Auch Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow wollte noch 1958 das Hauptziel des kurz nach Mitternacht am 2. August 1945 überstürzt unterzeichneten „Potsdamer Abkommens“ darin sehen, an seinem Ursprungsort den „deutschen Militarismus“ ausgerottet, seine „Wiedergeburt“ unmöglich gemacht, Deutschland als „friedensgefährdende“ Macht ausgeschaltet zu haben. Ein nach Moskauer Lesart insoweit gescheitertes Unternehmen, wie es den Bonner Teilstaat anging, den die sowjetische Propaganda bis in die sechziger Jahre unentwegt attackierte, weil er mit Westbindung und Wiederbewaffnung das Potsdamer Abkommen verraten und somit für das „Wiedererstehen des deutschen Militarismus“ optiert habe.

Nüchterne Betrachtung muß hingegen feststellen, daß dieses außenpolitische Störfeuer die Bedeutung des Potsdamer Abkommens unangemessen überhöhte. Handelte es sich doch lediglich um ein Regierungsabkommen. Und selbst wenn damit ein völkerrechtlicher Vertrag zustande gekommen wäre, hätte der Ausschluß Deutschlands von der Konferenz für diese nicht teilnehmende Macht nie Rechtskraft entfalten können.

Noch fern von allen im Kalten Krieg ausgefochtenen Deutungskämpfen sollte das Potsdamer Abschlußkommuniqué die Grundlage für die praktische Besatzungspolitik sein, die Großbritannien, die USA, die Sowjetunion sowie das erst während der Konferenz gönnerhaft mit einer Besatzungszone ausgestattete Frankreich gemeinsam durchführen wollten. Ein konsequent demilitarisiertes Deutschland sollte in vier Zonen unter der Aufsicht der in einem „Kontrollrat“ vereinten alliierten Oberbefehlshaber sein staatliches Leben auf „friedlicher und demokratischer Grundlage“ reorganisieren und als „Wirtschaftseinheit“ wieder lebensfähig werden. 

Deutsches Reich blieb als Völkerrechtssubjekt bestehen 

Die Deutschlandfrage stand zwar im Mittelpunkt des Tagungsgeschehens, war aber nicht das alleinige Problem der Zusammenkunft der „Großen Drei“. Friedensschlüsse mit Deutschlands europäischen Verbündeten standen auf der Agenda, und der Krieg im Fernen Osten nahm den US-Präsidenten Harry S. Trumann zeitweise stärker in Beschlag als das Tauziehen mit Stalin über die Nachkriegsordnung des alten Kontinents. Einen Tag vor Konferenzbeginn erhielt Truman jenes Telegramm mit dem ominösen Text „Babies satisfactorly born“, der ihren Empfänger über die gelungene Atombombenzündung in der Wüste New Mexicos unterrichtete. In Potsdam traf Truman dann zwischen zwei Vollsitzungen die fast beiläufig anmutende welthistorische Entscheidung, Hiroshima und Nagasaki mit der neuen Massenvernichtungswaffe auszulöschen, um das Kaiserreich Japan zur Kapitulation zu zwingen.

Ein Erfolg, der sich am 10. August 1945 prompt einstellte, während schon absehbar war, daß die Potsdamer Weichenstellung keinen vergleichbar radikalen Strich unter die Vergangenheit des Deutschen Reiches ziehen würde. Denn das Hauptproblem, der Friedensvertrag, blieb ungelöst. Ebenso die damit eng verknüpfte Frage nach dem potentiellen Vertragspartner, einer von Stalin, Churchill und Truman eigentlich gleichermaßen, wenn auch aus konträren machtpolitischen Erwägungen gewünschten „Zentralregierung“, der der Kontrollrat sukzessive seine „oberste Gewalt“ hätte übertragen können. Weil es keinen Friedensvertrag gab, blieb offen, wie das künftige deutsche Staatsgebiet aussehen sollte. Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 bildete zwar einvernehmlich die Grundlage der Potsdamer Beschlüsse. 

Aber ungeachtet der in nebulöse Ferne gerückten friedensvertraglichen Regelungen über das deutsche Territorium zwischen Oder und Memel, über die preußisch-deutschen Ostprovinzen, schufen die Polen mit sowjetischer Unterstützung völkerrechtswidrige Fakten indem sie eine eigene Verwaltung etablierten, gut drei Millionen in der Heimat verbliebene Deutsche enteigneten, gewaltsam vertrieben und durch ostpolnische Umsiedler ersetzten. Mit mehr als ohnmächtigen Protesten konnte Churchill, der überdies am 26. Juli 1945 nach einer verlorenen Unterhauswahl aus der Potsdamer Runde ausschied, diese Annexion nicht beantworten. Erfolglos intervenierte auch die US-Regierung, die bis 1949, in den Tagungen des Außenministerrates der vier Mächte, Polens Expansion auf die Linie Kolberg – Gleiwitz zurückdrängen wollte, um Niederschlesien, Ostbrandenburg und den größeren Teil Hinterpommerns für Deutschland zu retten.

Obwohl, wie der aus der Emigration zurückgekehrte, 1934 in Königsberg wegen seiner „nichtarischen Herkunft“ aus dem Lehramt gejagte Historiker Hans Rothfels 1955 mit Blick auf Ostdeutschland zu Recht resümierte, das Wort „Potsdam“ sei durch den Inhalt des Abkommens belastet mit der „faktischen Legalisierung eines der ungeheuerlichsten Vorgänge unserer Zeit, der nicht nur deutsche Menschen, sondern das Menschentum überhaupt schwer getroffen“ habe. So sei doch bei aller, den Keim des Kalten Krieges bereits bergenden Unzulänglichkeit des Protokolls nicht zu bestreiten, daß der Vorbehalt des Friedensvertrages die „deutsche Frage“ bis 1989 wirklich „offen“ gehalten hat – zuletzt freilich gegen den Willen der Herrschenden in Bonn und Ost-Berlin.

Für den Geschichtsunterricht bietet die Dauerpräsenz des Potsdamer Abkommens in allen innen- und außenpolitischen Kontroversen der Bonner Republik, von der Stalinnote 1952 bis zu den Ostverträgen und der im Schatten des Nato-Doppelbeschlusses zart aufkeimenden Debatte über eine „Neutralisierung“ von DDR und BRD, viel Stoff, um die sich anbahnende bundesdeutsche Anpassung der Politik an „alternativlose Realitäten“ zu studieren. 

Bis zum „Machtwechsel“ von 1969 und der „neuen Ostpolitik“ der Regierung Brandt/Scheel bestimmte der Anspruch die Deutschlandpolitik, die BRD sei alleiniger Rechtsnachfolger des fortbestehenden Völkerrechtssubjekts Deutsches Reich. Aus diesem Alleinvertretungsanspruch resultierte die Nichtanerkennung der DDR, die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze sowie der Auftrag, Deutschland als Ganzes, in den Grenzen von 1937, wiederherzustellen. Gegen die seit dem Mauerbau von SPD und FDP mit zunehmender Ungeduld erhobene Klage, eine solche Politik ignoriere „Realitäten“, hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard noch 1965 treffend erwidert, auch Krankheit sei eine „Realität“, aber eine „unerträgliche“, und niemandem fiele es ein, sie allein deswegen zu akzeptieren und nicht zu versuchen, sie zu heilen.

Mit „scheinbar unwiderleglichem Realismus“, so bilanzierte 1985 der Carl-Schmitt-Schüler Helmut Rumpf die vom Kabinett Kohl/Genscher 1982 bruchlos fortgesetzte sozialliberale Ostpolitik, habe man das Potential des Potsdamer Abkommens nach und nach verschenkt, den Status quo der Zweistaatlichkeit sowie die Annexion Ostdeutschlands anerkannt, die deutsche Teilung vertieft und sich dem Expansionswillen des sowjetischen Imperialismus unterworfen, um unter dem Gewölk von Entspannungs- und Friedensillusionen einen „politischen Rückzug säkularen Ausmaßes“, nach nationalen wie demokratischen Maßstäben, anzutreten. 

Foto: Der sowjetische Diktator Stalin, US-Präsident  Truman und der britische Premier Churchill, Potsdam 1945: Kein völkerrechtlicher Vertrag