© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Widerstand aus Staatsräson
Freiburger Kreis und Johannes Popitz: Zwei Werke widmen sich der NS-Opposition der Nationalökonomen
Dirk Glaser

Bis in die 1980er war der erfolgreiche Promovend in den Wirtschaftswissenschaften ein „Dr. rer. pol.“, also Doctor rerum politicarum, nicht oeconomicarum. Eine scheinbar nebensächliche Reminiszenz, die jedoch in Hans Maiers Einleitung zu einem Aufsatzband über den Widerstand Freiburger Professoren während der NS-Zeit zu einem Schlüssel des Verständnisses für ihr lebensgefährliches Unterfangen wird.

Im Zentrum dieser bürgerlichen NS-Opposition standen, neben dem Historiker Gerhard Ritter, die Nationalökonomen Adolf Lampe, Walter Eucken, Constantin von Dietze, der 1937 nach Jena gewechselte Franz Böhm und der Wirtschaftsrechtler Hans Großmann-Doerth. Ins „Magnetfeld der Politik“ gerieten diese Gelehrten aber nicht erst ab 1933, sondern eben durch ihre alteuropäische Auffassung vom „Beruf“ der Nationalökonomie, wie sie sich selbst noch im Doktordiplom niederschlug.

Denn anders als für die vermeintlich „autonome“ oder „reine“ angelsächsische Wirtschaftstheorie, war für die deutsche die Verbindung von Wirtschaft, Recht und Politik konstitutiv und durch eine bis zu Aristoteles zurückreichende kameralistische Tradition legitimiert. Nicht zufällig, so führt Maier als Kenner der Disziplingeschichte aus, sei daher den zumeist in einer Fakultät vereinigten Rechts- und wirtschaftlichen Staatswissenschaftlern seit Bismarcks Reformen eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des modernen deutschen Sozialstaates sowie bei der Ausgestaltung der Institutionen des regulierenden, verteilenden Staates der „Daseinsvorsorge“ zugefallen.

Auch die Freiburger Fachvertreter verfügten über einen entsprechend wachen Sinn für nichtökonomische Voraussetzungen der Ökonomie. Und gerade diese Überzeugung vom Vorrang des Staates vor den Interessen der Wirtschaft brachte sie in Konflikt mit dem NS-System. Denn der starke Staat als Organ des Gemeinwillens ordnet in den Lehrbüchern Lampes und Euckens die Freiheit der Märkte. Es ist ihm aber verboten, über die Wirtschaftssphäre hinauszugreifen und die freie Persönlichkeit auszulöschen. 

In dem Maß wie der NS-Staat das bürgerliche Individuum „total“ in die „Volksgemeinschaft“ zu integrieren versuchte, wuchs die Entschlossenheit der Freiburger Ökonomen zum Widerstand. Sie beteiligten sich nicht direkt an den Umsturzplanungen der Militäropposition, aber waren als Berater für den Kreisauer Kreis wie für die nationalkonservative Fronde um Carl Goerdeler und ihren Berliner Kollegen Jens Jessen tätig. Gerade die Beziehung zu Goerdeler, der unter der Gestapo-Folter Namen preisgab, hätte Lampe und von Dietze, die im September 1944 verhaftet wurden, um ein Haar den Kopf gekostet. 

Vom 9. April 1945 datiert eine Anklageschrift für den Volksgerichtshof, die von Dietze bezichtigt, mit seinen wirtschaftspolitischen Konzepten die organisatorische Vorbereitung der „Putschpläne des Verräters Goerdeler“ unterstützt zu haben. Der Erschießung der Häftlinge des Moabiter Zellengefängnisses am 23. April 1945, unter ihnen Albrecht Haushofer (Seite 19) und Friedrich Justus Perels, entgingen die beiden Freiburger nur knapp.

Verbindung zu national-konservativen NS-Gegnern

Obwohl heute weiterhin der Widerstand an den Universitäten unwillkürlich mit den Aktionen der Münchner Studentengruppe „Weiße Rose“ identifiziert werde, während die nie öffentlich artikulierte Kritik und die konspirative Minierarbeit der Freiburger wenig Beachtung finde, wie Maier bemängelt, sind die ordoliberalen, in der „Sozialen Marktwirtschaft“ der Bonner Republik wenigstens partiell verwirklichten Alternativplanungen für die Zeit nach Hitler ebenso wie Ritters Rückbesinnungen auf den christlich-europäischen Humanismus als Maßstab der Politik eigentlich recht gut erforscht. Wobei Daniela Rüthers Monographie über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler („Der 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft“, 2002) hier wohl das größte Verdienst zukommt, seit dem 1973 veröffentlichten Pionierwerk Christine Blumenberg-Lampes über „Das wirtschaftspolitische Programm der ‘Freiburger Kreise’“.

Rüther faßt ihre Arbeit in diesem Aufsatzband nochmals knapp zusammen, wie überhaupt die meisten Beiträge, unter denen facettenreiche Porträts von Eucken und Böhm, die der Jenaer Wissenschaftshistoriker Uwe Dath beisteuert, besonders lesenswert sind, eher resümierenden Charakter haben. Das gilt auch für Klaus Schwabes Studie über seinen Lehrer Gerhard Ritter und den unterhaltsam-sarkastischen Rückblick Günther Gillessens auf die Posse um einen nach Ritter benannten Historikerpreis der Badischen Zeitung (JF 24/08), bei der das in bundesdeutschen geschichtspolitischen Debatten dominierende „skandalisierte Besserwissen aus dem Nachhinein“ einmal mehr Regie führte. Originelle Ergänzungen zu diesen ideenhistorischen Abbreviaturen stellen die Erinnerungen dar, in denen Irene Eucken, Klaus Lampe und Gottfried von Dietze ihre gelehrten Väter als kantige Charaktere und unbeugsame Persönlichkeiten beschreiben. 

Über den 1944 hingerichteten Jens Jessen bestand zwischen den Freiburgern eine Verbindung zum nationalkonservativen Kern der NS-Gegner, der sich in Berlin um den Diplomaten Ulrich von Hassell und den am 2. Februar 1945 hingerichteten preußischen Finanzminister Johannes Popitz gebildet hatte. Wie Anne C. Nagel in einem neuerlichen biographischen Anlauf, die „Sphinx“ Popitz zu verstehen, sei auch dieser Jurist und brillante Steuerrechtler, der sich 1933 fast ohne Vorbehalte in den Dienst der Regierung Adolf Hitlers gestellt hatte, spätestens 1938 um des „Staates“ willen auf Gegenkurs gegangen. 

Paradoxerweise war es bei Popitz, mehr noch als den Freiburgern, ein schon zur Staatsfrömmigkeit gesteigertes, hegelianisches Staatsethos, das dem „totalen Staat“ des Nationalsozialismus opponierte. Für diesen „stillen Seitenwechsel“ gab nach Nagels Ansicht weniger der Popitz täglich vor Augen tretende Kontrast zwischen der verschwenderischen Lebensart seines Dienstherrn, des „prunksüchtigen Morphinisten“ Hermann Göring, und der das Volk auf preußische Sparsamkeit einschwörenden Propaganda den Ausschlag. 

Auch die Empörung über die „Reichskristallnacht“, die sich bei Popitz in einem von Göring nicht akzeptierten Rücktrittsgesuch entlud, könne nur als „spekulatives“ Motiv für den Entschluß vermutet werden, aktiv auf den Umsturz des Regimes hinzuwirken. Denn seit 1933 habe der Finanzminister Preußens mit der „materiellen Drangsalierung der deutschen Juden kein Problem gehabt“. Allerdings habe der antijüdische Furor vom 9. November 1938 für den humanistisch gebildeten Goethe-Verehrer Popitz, für den, ebenso wie für seine Mitstreiter aus den alten Eliten, „das Deutsche Reich als Macht-, Rechts- und Kulturstaat“ das Fundament ihres Lebens war, „eine Grenze überschritten“.  Nachhaltiger war Popitz’ Staatstreue indes durch den Anspruch der NSDAP in Frage gestellt worden, dem zufolge die Partei dem Staat befehle.

Nagels streckenweise leider sehr oberflächlicher Darstellung ist denn doch zugute zu halten, mit diesem „Glauben an den Staat“ Popitz’ Weg im Dritten Reich verständlich gemacht zu haben. Auch wenn dieser Glaube nicht mehr den „Zeitgeschmack der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ treffe, so rühre er doch „nicht im mindesten“ an der Integrität von Johannes Popitz.

Hans Maier (Hrsg.): Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2014, gebunden, 283 Seiten, 29,90 Euro

Anne C. Nagel: Johannes Popitz (1884–1945). Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler. Böhlau Verlag, Köln 2015, gebunden, 251 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro