© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Pankraz,
A. Tsipras und die vermeßbare Göttin

Mythen, so lehrten  schon die alten griechischen Sophisten vor 2500 Jahren, sind frei erfundene Geschichten, mit denen Politiker ihre Handlungen begründen und rechtfertigen, wenn ihnen die empirischen Fakten dazu fehlen. Sie können (und sollten), wann immer möglich, durch später erworbene Fakten ersetzt werden, weil sie sonst zu schlichten Lügen denaturierten, zur bewußten Verfälschung der historischen Wahrheit.

Im Licht dieses Kriteriums sind die Thesen, die zur Zeit in Berlin und anderswo zur  Rechtfertigung der „Rettung Griechenlands“ so eifrig verbreitet werden, nicht einmal mehr Mythen, es sind nichts als ungenierte Lügen, die jeder empirischen Forschung hohnsprechen. Griechenland, heißt es im Dauerton, sei doch „die Wiege der Demokratie“ und „das Herz Europas“, so etwas könne man doch nicht einfach im Regen stehen lassen. Dabei pfeifen es längst die Spatzen von jeder Seminarrinne: Griechenland hat weder die Demokratie noch Europa erfunden.

Was sich zur Zeit des Perikles (490 bis 429 v. Chr.) im Stadtstaat Athen „Demokratie“, also „Volksherrschaft“, nannte, war das Stimmrecht einer schmalen Schicht privilegierter Bürger, die innerhalb der Stadtmauern residierten und wohlbegütert waren. Die Sklaven, gut ein Drittel der damaligen Bevölkerung Athens, hatten natürlich kein Stimmrecht, aber auch die Frauen der freien Stadtbürger nicht und auch nicht die „Migranten“ vor den Stadtmauern, also all die phönizischen Kaufleute oder zeitweise beschäftigte Arbeitskräfte von den vielen kleinen Inseln ringsum.


Auch die Jünglinge und jungen Männer unter dreißig diesseits der Mauern besaßen weder Stimm- noch Wahlrecht. So blieben am Ende höchstens zehn Prozent der realen Stadtbevölkerung als wirkliche Mitglieder der „Ekklesia“, der „Volksversammlung“, übrig. Und auch diese zehn Prozent standen unter der ständigen Aufsicht einer gnadenlosen Justiz, die über die Einhaltung von „göttlichen“, überkommenen Gesetzen wachte und all diejenigen, die angeblich dagegen verstießen, hinrichten ließ oder aus der Stadt vertrieb: Sokrates, Platon, Aristoteles …

Keiner der damaligen Machthaber in Athen oder Sparta oder Theben wäre je auf den Gedanken gekommen, sich als „Europäer“ zu fühlen, alle ihre Sehnsüchte galten vielmehr dem Orient, den dann Alexander der Große auch militärisch eroberte – um danach energisch die Vermischung der kulturellen Kräfte des Orients und Griechenlands zu betreiben. Der Lieblingsaufenthalt des gewaltigen Strategen war Persepolis in Persien, er starb in Babylon im heutigen Irak und wurde in Ägypten begraben. 

„Europa“ hingegen blieb für ihn, wie für alle griechischen Machthaber und Gelehrten vor ihm und nach ihm und bis weit ins christliche Zeitalter hinein, eine Terra incognita, ein rein mythisch erfaßter Raum mit zudem eher drolligen Dimensionen. „Europa“ war der Name einer phönizischen Prinzessin, die Zeus auf einen Stier setzte, um mit ihr ins ferne Liebesnest zu reiten, wobei die Dame zu viel gequasselt haben soll: „barbarbarbarbar“. Daraus entstand das Wort für alle fremden, nicht griechisch sprechenden Völker. 

Es gibt eine (eher beiläufige) Bemerkung von Herodot, worin er die Barbarenstämme im Norden pauschal als „Europäer“ bezeichnet und sie ziemlich herablassend als Bewohner allzu kalter und dunkler Gegenden negativ von den Völkern Asiens und Afrikas inklusive Griechenlands abgrenzt. Erst viele Jahrhunderte später tauchte der Begriff Europa zum ersten Mal in rein positiver Akzentuierung auf, nämlich 799 n. Chr, in der sogenannten Paderborner Handschrift, in der Papst Leo III. den nachmaligen Kaiser Karl den Großen überschwenglich als „erhabenen Leuchtturm Europas“ feiert. 

Die Griechen hatten sich zu dieser Zeit längst wieder aus dem ost-westlichem Verbund des Imperium Romanum gelöst, in das sie durch die römischen Expansionen hineingeraten waren. Sie hatten ihr eigenes „Rom“, Byzanz, gegründet, welches das Weströmische Reich um volle tausend Jahre überlebte und welches in dieser Zeit Herrschaftsformen und religiöse Ritualitäten entwickelte,  die unübersehbar an orientalischen Traditionen ausgerichtet waren.

 

Das griechische Byzanz hatte faktisch nichts mehr mit dem Geist alt-römischer, neu-abendländischer Senatorenrepubliken zu tun. Deren Bestreben – wie noch heute das Bestreben Europas – war es gewesen, so viele Lebensbezirke wie nur möglich streng zu verrechtlichen und strengste Gesetzesdisziplin zu etablieren. In Byzanz hingegen – wie heute in Athen – nahm man es mit Verrechtlichung und Disziplin niemals allzu ernst, und just  deshalb lagen und liegen heute Welten zwischen griechischem und europäischem Geist.

Bewunderung und Zuneigung errangen und verdienen die Griechen nicht deshalb, weil sie angeblich die Demokratie und Europa erfunden haben, sondern weil sie die Philosophie und die genaue Naturbeobachtung  erfunden haben, Es waltete in ihnen jenes „Amalgam aus Neugier und Schlauheit“ (Edgar Morin), das sich zum ersten Mal bei griechischen Denkern wie Thales von Milet, Anaximenes, Demokrit und Empedokles zu Wort meldete und das seitdem die Geschichte der Wissenschaft und der Zivilisation in unvergleichlicher Weise geprägt und beflügelt hat.

Man begnügte sich nun nicht mehr damit, dem Walten der Götter und Dämonen einfach zu lauschen und sich ihrem Ratschluß einzufügen, sondern man wollte sie „verstehen“, ihnen auf die Schliche kommen. Und man wollte sie nachmachen, sie gegebenenfalls sogar überlisten. Selbst der fromme Pythagoras, gerade er, suchte den „meßbaren Gott“, den man gewissermaßen in ein Netz mathematischer Formeln verwandeln konnte.

Inzwischen hat sich dieses typisch griechische Überlistenwollen offenbar auch auf die internationale Finanzwelt ausgedehnt. Alexis Tsipras möchte gern Angela Merkel überlisten. Aber er ist glücklicherweise kein zweiter Pythagoras. Frau Merkel ist freilich auch keine Göttin, nicht einmal eine vermeßbare.