© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Künstliche Intelligenz und die Zukunft des Menschen
Die vierte Kränkung
Felix Dirsch

Sigmund Freuds Blick auf die Neuzeit ist düster. Sie bringt seinem berühmten Diktum zufolge für den Menschen drei Kränkungen: Kopernikus dezentriert die Erde im damals bekannten Weltall, weswegen auch der Mensch seine Mittelpunktstellung verliert. Charles Darwin destruiert die Vorstellung vom Menschen als der Krone der Schöpfung und wirft ihn auf ein wie auch immer entwickeltes Exemplar der Tierwelt zurück. Freud selbst macht der inzwischen hinreichend depotenzierten Gattung klar, nicht einmal Herr im eigenen Haus zu sein: Das dunkle „Es“ der Triebe entschlüpft eins ums andere Mal dem „aufgeklärten“ Ich.

Die kulturpessimistische Diagnose des Vaters der Psychoanalyse ist nicht unwidersprochen geblieben. Schließlich handle es sich um unvermeidliche Prozesse der Desillusionierung. Andere Interpreten machen mittlerweile weitere Kränkungen aus. Neben der Annahme einiger Hirnforscher, der freie Wille sei eine Wunschvorstellung, ist es in der Frühzeit der Computerwissenschaft der geniale Mathematiker Alan Turing (1912–1954), dessen Universalmaschine eine Imitation der Funktionsprinzipien des menschlichen Geistes darstellt. Der Mensch steht demnach mit der Maschine als informationsverarbeitendes System auf einer Ebene. Er ist folgerichtig im posthumanistischen Weltbild nichts weiter als die „Summe seiner Daten“. Jede alternative Definition hingegen wäre, so der Soziologe Niklas Luhmann ironisch, „alteuropäisch“ und damit unbrauchbar zur Beschreibung moderner sozialer Systeme.

Jetzt kommt erst richtig zum Vorschein, wie veraltet Humanes im Gang der Evolution wirkt. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“, posaunt der erste explizite Posthumane, Friedrich Nietzsche, hinaus und hält seinen Zeitgenossen vor (so, als gehörte er nicht dazu): „Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht und Vieles ist in euch noch Wurm.“

Angesichts der rasanten Fortschritte der Hirnforschung, der genmanipulativen Möglichkeiten sowie der Computer- und Robotertechnik verwundert es nicht, daß in den Chatboxen des Internets und anderswo schon länger die Frage diskutiert wird, wer den Menschen beerben werde. Der Übermensch gewinnt sukzessive Konturen. Ist es lange Zeit der Roboter, dem gottähnliche Eigenschaften zugeschrieben werden, einschließlich der erhofften Unsterblichkeit, zieht in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Internet viele Erlösungshoffnungen auf sich.

Zum medienwirksamen Symbol der Obsoleszenz des so unter Druck geratenen „Mängelwesens“ (Arnold Gehlen) wird 1997 die Niederlage des Schachgroßmeisters Garri Kasparow gegen den IBM-Computer „Deep Blue“. Immerhin gelingt dem Armenier gegen einen noch potenteren maschinellen Spielpartner mit Namen „Deep Junior“ ein Remis. Die Ehre der Gattung scheint halbwegs wiederhergestellt, zumal man oft genug vorbringen kann, daß menschliche Intelligenz vielfältig ist und mehr als formale Varianten umfaßt. Nicht von ungefähr geht Daniel Golemans Schlagwort von der „Emotionalen Intelligenz“ schnell in den Alltagswortschatz ein.

Skeptische Internetvordenker fordern eine „humanistische Informationsökonomie“. Diese soll sicherstellen, daß Menschen trotz des Vordringens immer intelligenterer Maschinen fähig bleiben, ihren Lebensunterhalt auch zukünftig zu

bestreiten. 

Welche, manchen beängstigenden, technischen Entwicklungen lassen in letzter Zeit aufhorchen? Softwaregesteuerte Autos und Lastwagen sind längst kein Phantasieprodukt mehr, sondern in Einzelfällen schon Realität. Sie werden zwar noch nicht als Massenprodukt hergestellt, aber diese Fertigung erscheint nur als Frage der Zeit. Das neue Zauberwort der Informatik-Branche lautet 3D-Drucker. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, spucken sie selbst in der jetzigen Phase der Erzeugung Güter aus, die bisher kompliziert in Fabriken erzeugt werden müssen.

Weitere Verbesserungen werden nicht lange auf sich warten lassen. Daß in Japan schon seit Jahren Roboter in der Altenpflege eingesetzt werden, liegt nicht zuletzt an der stärkeren Aufgeschlossenheit der Inselbewohner gegenüber technischen Innovationen. Längst weist auch der Sportsektor eine forcierte Automatisierung auf. Seit 1997 findet die Fußball-Weltmeisterschaft der Maschinen statt. Roboter gehen einigermaßen geschickt mit dem Ball um. Auch hier wird es dauern, bis sie menschliche Konkurrenz besiegen. Kann der Mensch noch lange auf diesen und anderen Sektoren mithalten?

Gegen derartige Befürchtungen wird häufig ein Standardargument vorgebracht: Maschinenstürmer hätten die Rationalisierung zu keiner Zeit aufhalten können, weiterhin habe man sie stets in ihren mechanisierungskritischen Thesen widerlegt. Solche Einwände übersehen freilich den aktuellen Stand der Automation. Schon vor einiger Zeit schockierte Jeremy Rifkin mit seinem Werk „Das Ende der Arbeit“ die Öffentlichkeit. Unlängst werden dessen Analysen durch Nicholas Carrs Untersuchung „Abgehängt“ auf den aktuellen Stand gebracht.

Noch größeres Aufsehen erregt einer der weltweit führenden Computerwissenschaftler, der zudem als Unternehmer und Musiker tätig ist: Jaron Lanier. In seinem Bestseller „Wem gehört die Zukunft?“ betont er nicht nur die Gefahren der Speicherapparaturen im Internet, die seit der NSA-Spionageaffäre offen zutage treten. Lanier beleuchtet darüber hinaus das neu justierte Verhältnis von Mensch und Maschine. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2014 präsentiert auch praktische Ratschläge, etwa gegen die Kultur der „Open Source“, die den Niedergang ganzer Berufszweige wie den der Musiker und den der Journalisten mit sich bringe. Zudem beklagt er ungerechte Vermögenskonzentration zugunsten derer, die Eigentümer moderner Supercomputer und Sirenenserver sind. Laniers philosophische Schlußfolgerung: Er fordert eine „humanistische Informationsökonomie“. Sie solle sicherstellen, daß Menschen trotz des Vordringens immer intelligenterer Maschinen fähig bleiben, ihren Unterhalt auch zukünftig zu bestreiten. In letzter Konsequenz will der skeptische Internetvordenker das hervorheben, was den Menschen im Unterschied zur Maschine auszeichnet: primär die Attribuierung autonomen, freien und selbstbestimmten Handelns. Gemäß seinem Credo besteht noch Bedarf für den Menschen.

Mit solchen Vorstellungen rennt Lanier bei den futuristischen Technikfreaks keine offenen Türen ein. Im Gegenteil: Der auch in Deutschland bekannte US-Buchautor und Erfinder Ray Kurzweil (JF 46/14) kann es nicht erwarten, daß die rationalistisch-künstliche Intelligenz der Maschine die emotionale des Menschen übertrifft. Der überzeugte Transhumanist erhofft unter anderem eine zunehmende Verschmelzung des menschlichen Gehirns mit dem Internet und so nichts weniger als die Unsterblichkeit des Geistes.

In der Kampfzone formieren sich also zwei Parteien: Die Bannerträger der „Verteidigung des Menschen“ (Jan Roß) stehen denjenigen gegenüber, die den Homo sapiens sapiens nur als Durchgangsstadium sehen. Dessen hinfälliger Organismus werde von einer perfektionierten „Menschheit 2.0“ (Kurzweil) bald abgelöst. Die Apologie des alten Adam kann den Zukunftseuphorikern nur ein müdes Lächeln entlocken. Zu den ambitioniertesten Verfechtern der Auffassung von der „Antiquiertheit des Menschen“ (Günter Anders) zählt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz: Ihm zufolge schreite „die Entzauberung der Welt weiter fort – ohne unsere, der User bewußte Teilnahme. Im Roboter hat die abendländische Rationalität ihr endgültiges Gehäuse gefunden, in dem sie von Menschen ungestört funktionieren kann“. Für den Nietzsche-Rezipienten Peter Sloterdijk ist es angesichts einer langen Tradition der durch „Anthropotechniken“ evozierten Optimierung unserer Art eine Selbstverständlichkeit, eine immer stärkere Hybridisierung mit künstlichen Materialien bis zur vollständigen Ersetzung anzustreben.

Der Mensch-Maschine-Vergleich fällt differenziert aus. Verengt man den Blickwinkel nicht auf bestimmte Sektoren formaler Intelligenz, ist der Mensch weithin seinen künstlichen Geschöpfen überlegen. Das Gehirn ist eben doch kein Algorithmus. 

Legt man ausschließlich Leistung und Effizienz als Maßstab zugrunde, mögen die Aussagen vieler Unkenrufer plausibel sein. Die in den letzten Jahren durchgeführten Turing-Tests, die die Unterscheidbarkeit von Mensch und Maschine prüfen, lassen die Maschinen immer „menschlicher“ erscheinen. Fragt man freilich nach dem Spezifikum menschlichen Daseins, kommt man früher oder später zu nicht simulierbaren Kategorien wie genuines Selbstbewußtsein sowie Sinn- und Glücksempfinden.

Ohne die Thematik halbwegs erschöpfen zu können, soll festgestellt werden: Das Gelingen menschlichen Daseins hängt von kontingenten Faktoren ab, nicht zuletzt vom Grunddatum des Todes. Aus Sicht vieler Techno-Avantgardisten ist der Tod ein Defekt der Natur, der ausgemerzt gehörte. Freilich ist Glück ohne absehbares Ableben nicht zu erreichen, da Lebenszeit im Überfluß von beispielsweise einigen Jahrhunderten eine erfüllende Gestaltung durch Tätigkeit für die meisten unmöglich machte. Die sich aus einem solchen Szenario ergebende Tristesse infolge von Langeweile wäre unerträglich! Der tschechische Komponist Leoš Janácek bringt in seiner Oper „Die Sache Makropulos“ das Sujet einer überlangen Lebensdauer zur Aufführung: Die Protagonistin, Tochter des Leibarztes Kaiser Rudolfs II., nimmt ein Mittel ein, welches ihr die Existenz von 300 Jahren (unter verschiedenen Namen) ermöglicht. Nach Ablauf dieser Frist entschließt sie sich, auf eine Verlängerung zu verzichten. Sie bricht zusammen. Das Stück verdeutlicht den Grund.

Zudem ist auf das Vergessen hinzuweisen – für Transhumanisten ein weiteres Indiz der Unterlegenheit des Menschen. Immer bessere, Big-data verarbeitende Rechner besitzen stets höhere Speicherkapazitäten. Nur ein Vorteil oder auch nachteilig? Für Menschen ist die „Lethe“ (Harald Weinrich: „Kunst und Kritik des Vergessens“) eine der fundamentalen Existenzbedingungen. Weniger kann mehr sein! Erst recht aber ist das Transzendenzbewußtsein etwas, das den Menschen auszeichnet, die Fähigkeit, den „Sinn des Sinnes“ abzustecken und den Grund des Ganzen auszuloten, wie es der Philosoph Volker Gerhardt herausgearbeitet hat. Im „Gegenlicht Gottes“ (Gerhardt) findet der Mensch seine Identität. Und der Roboter? Dauerhafte Fehlanzeige!

Der Mensch-Maschine-Vergleich fällt bei genauer Betrachtung differenziert aus. Verengt man den Blickwinkel nicht auf bestimmte Sektoren formaler Intelligenz, ist der Mensch weithin seinen künstlichen Geschöpfen überlegen. Das Gehirn ist eben doch kein Algorithmus. Die Schöpfung des Höchsten, die über personales Verantwortungsbewußtsein verfügt, besitzt eine Würde, der sich prinzipiell kein technisches Äquivalent gesellen kann. Eine Botschaft, die nicht wenig beruhigt.




Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft an der Universität „Progress“ in Gjumri/Armenien und Politische Theorie an der Hochschule für Politik/München. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über religiöse Sinnstiftung („Halt in den Zeiten“, JF 52/14-1/15).