© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Epochen der Sehnsucht
Zwischen Fortschrittsoptimismus und Vergangenheitssehnsucht: Zeitbewußtsein zur Zeit der Aufklärung
Wolfgang Müller

Auf die Frage eines regionalen Anzeigenblättchens, welche Epoche sie denn gern mit einer Zeitmaschine erkunden wolle, antwortete die Schleswig-Flensburg (Wahlkreis 1) im Bundestag vertretende Sabine Sütterlin-Waack (CDU) nahezu entrüstet: sie fühle sich in der Gegenwart so wohl, daß sie keine Lust verspüre, in die Vergangenheit oder die Zukunft zu reisen. 

Die 1958 geborene Schleswiger Rechtsanwältin, seit 1976 in der Partei, zudem Enkelin eines CDU-Bundesministers, Tochter des CDU-Granden Henning Schwarz, der nach der „Barschel-Affäre“ zum kommissarischen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins aufrückte, formuliert mit dieser unbekümmerten Einlassung das so satte wie phantasielose Selbstverständnis der heute regierenden Generation „Alternativlos“, die in der besten aller möglichen Welten zu leben glaubt.

Voltaire als ein Gläubiger unaufhaltsamen Fortschritts

Von der Kontinuität des neuzeitlichen politischen Denkens, das in Europa die Gegenwart stets entweder historisch an der Vergangenheit oder utopisch an der Zukunft maß, kann man sich radikaler nicht verabschieden. Und diesem Bruch ist Konsequenz nicht einmal abzusprechen, da einerseits der Blick zurück nach siebzig Jahren „Vergangenheitsbewältigung“ deutsche Geschichte inzwischen erfolgreich mit ihren „dunkelsten Jahren“ identifiziert, andererseits der Untergang des „real existierenden Sozialismus“ das zukunftsfrohe „Prinzip Hoffnung“ nachhaltig diskreditiert hat.

Im 18. Jahrhundert hingegen schien sich kaum jemand in der Gegenwart sonderlich zu Hause gefühlt zu haben. Daher schwankte gerade die für Sinnstiftung zuständige Intelligenz zwischen „Fortschrittskult“ und „Sehnsucht nach der ‘guten alten Zeit’“. Ein Dualismus, den die Gießener Romanistin Anna Isabell Wörsdörfer in ihrer Studie über „Zeitbewußtsein und Geschichtsmodelle im 18. Jahrhundert“ anhand zweier Gedichte aufzeigt (Germanisch-Romanische Monatsschrift, 4/2014). Das eine, „Le mondain“ (1736), stammt aus der Feder Voltaires, des Fürsten der französischen Aufklärung, das andere, „Le vieux château“ (1794), von dem weit weniger bekannten Autor Louis de Fontanes (1757–1821), der es als Monarchist vorzog, sich vor der Pariser Jakobinerherrschaft in der Normandie in Sicherheit zu bringen.

Bei Voltaire findet Wörsdörfer, was zu erwarten war: die lineare Vorstellung eines unaufhaltsamen Fortschritts, der von den trüben Anfängen des Menschengeschlechts zu den Höhen ihrer lichten Zukunft empor führt. Das von „Nörglern und ewig Gestrigen“ zurückgewünschte „Goldene Zeitalter“, so höhnt Voltaire, sei nichts anderes als „Fiktion und Hirngespinst“. Der bekennende Atheist und Kirchenfeind scheut daher auch nicht davor zurück, das Urmodell aller rückwärtsgewandten Utopien, das „Paradies“ der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte, als unterste, fast tierische Entwicklungsstufe des Menschen zu schildern. Adam und Eva werden mit den Attributen der Barbarei und Wildheit belegt. Bei ihrer täglichen Arbeit ungeschützt den Unbilden der Natur ausgesetzt, zeigen ihre Körper in Voltaires poetischer Ausmalung Spuren von Schmutz und Auszehrung. In die Nähe des Animalischen rückt er auch ihr Geschlechtsleben, das dem puren Trieb gehorcht und dem jedes höhere Gefühl fehlt. Und die Mahlzeiten wie die Schlafstätte der Bewohner des Gartens Eden seien an Primivität nicht zu unterbieten gewesen.

Das höfische Mittelalter als Goldenes Zeitalter

Im Gegensatz dazu beschreibt Voltaire die zumindest der Oberschicht des Ancien régime zugänglichen Freuden seiner zivilisatorisch weit vorangekommenen Gegenwart, in der Adam als honnête homme nicht nur in den Genuß einer „reinlichen Toilette“ gekommen wäre, sondern dank aller Finessen des Luxus sich überhaupt erst in menschliche Form gebracht hätte. 

Voltaires Gedicht ist indes weniger, wie Wörsdörfer meint, eine laudatio temporis praesentis, ein Lob der Gegenwart, wie es zum Schluß überdies das stolze Credo des Sprecher-Ich („Le paradis terrestre est où je suis“) bekräftigt, sondern vielmehr die Verteidigung einer wichtigen Etappe, die nur ein Zwischenstadium in der Fortschrittsgeschichte darstellt. Im wahrsten Sinne erschüttert wurde dieser Progressismus dann 1755  durch die Jahrhundertkatastrophe des Erdbebens von Lissabon.

De Fontanes’ dreizehnstrophiges Gedicht „Le vieux château“ illustriert für Wörsdörfer den Umschlag vom geschichtsphilosophischen Fortschritts- ins Dekadenzmodell in anschaulicher Prägnanz. Inspiriert durch eine normannische Burgruine verlegt der Revolutionsflüchtling de Fontanes das Goldene Zeitalter ins höfische Mittelalter, das Voltaire noch mit ähnlich primitiven Zuständen wie im Garten Eden assoziiert hatte. 

De Fontanes mache daraus das Herzstück aristokratisch-konservativer Erinnerungskultur. In ihrer idealisierten Gestalt stehe diese „klar den Vorzug vor der Gegenwart“ verdienende Epoche für Authentizität, Sinn für Würde, für die Lebensordnung eines „heldenhaften Menschenschlags“, für Harmonie und Glück.

De Fontanes’ kurzes Poem signalisiere, was schon 1750 bei einem berühmten Parteigänger der Aufklärung, bei Jean-Jacques Rousseau einsetze: die Zweifel am Fortschrittsversprechen des Vernunftglaubens. Nicht erst angesichts des Revolutionsterrors mehrten sich somit die traditionalistischen Stimmen, die das Verständnis des angeblich so zukunftsoptimistischen Siècle des Lumières erheblich variantenreicher erscheinen lasse, als dies viele allzu pauschale ältere Untersuchungen suggerierten.