© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Als aus einer Hafenkneipenschlägerei fast ein Krieg wurde
Um 1877 einen erneuten Konflikt des Reiches mit Frankreich zu verhindern, dämpfte Bismarck im Zusammenspiel mit Paris die aufgeheizte Stimmung
Jürgen W. Schmidt

Am 14. Januar 1877 spielte sich im Hafenviertel des türkischen Hafens Smyrna (Izmir) ein Vorgang ab, der gut geeignet gewesen wäre, Anlaß eines neuerlichen deutsch-französischen Krieges zu werden. Weil es in der Türkei wenige Monate vorher zu christenfeindlichen Ausschreitungen gekommen war – so hatte ein muslimischer Mob im damals noch türkischen Saloniki den deutschen und französischen Konsul gelyncht – lagen nun Kriegsschiffe mehrerer europäischer Mächte im Hafen von Smyrna vor Anker. 

Zu den deutschen Kriegsschiffen gehörte das kleine Kanonenboot „Meteor“, welches einige Jahre zuvor im Deutsch-Französischen Krieg am 8. November 1870 ein Seegefecht gegen ein doppelt so großes französisches Kriegsschiff nahe von Havanna erfolgreich bestanden hatte. Nunmehr wurden gerade deswegen die Matrosen der „Meteor“ beim allabendlichen Landgang öfter von französischen Kriegsschiffmatrosen grundlos angerempelt und provoziert. Die Angelegenheit gipfelte am 14. Januar 1877 in einer von den Franzosen provozierten Massenschlägerei in einer Hafenkneipe, zu deren Ende ein deutscher Unteroffizier mit einem Stuhlbein erschlagen wurde. 

Der deutsche Konsul in Smyrna wollte die Angelegenheit gütlich mit seinem französischen Kollegen regeln, um den Täter wegen des Totschlags gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Doch der französische Konsul de Burggraff schaffte es mit bemerkenswerter Inkompetenz, aus einem tragischen Fall von Totschlag unter Matrosen eine internationale Skandalaffäre zu machen. Trotz seiner getroffenen Abmachungen mit Konsul Adolf Tettenborn, die Angelegenheit intern zu regeln und nicht an die Presse kommen zu lassen, meldete er alles blitzschnell nach Paris und verursachte dadurch einen stürmischen deutsch-französischen Pressekrieg, in welchem Drohungen und Forderungen beidseitig immer lautstärker geäußert wurden. 

In dieser brandgefährlichen Situation ergriff Reichskanzler Otto von Bismarck die Initiative. Ihm schien die ganze Affäre vor allem deshalb gefährlich, weil gerade ein neuer russisch-türkischer Krieg in der Luft lag, der sich zu einem europaweiten Krieg ausweiten konnte. Bismarck ließ sich sofort über alle Einzelheiten des Vorfalls von Izmir Bericht erstatten, fütterte mit diesen Details die als halboffizös geltende Norddeutsche Allgemeine Zeitung und errang dadurch in Deutschland sogleich die Meinungsführerschaft der Presse, welche daraufhin ihren aggressiven Ton zurückfuhr. 

Gleichzeitig wies Bismarck den deutschen Botschafter Fürst Hohenlohe in Paris an, energisch beim französischen Außenminister Louis Decazes dessen mäßigende Einwirkung auf die französische Presse und die halbamtliche Nachrichtenagentur „Agence Havas“ zu verlangen. Decazes ging auf diese Bismarckschen Forderungen ein, denn er war sich der seit 1871 immer noch bestehenden französischen außenpolitischen Isolierung bewußt, und ihm graute gleichfalls davor, in dieser brisanten Situation in einen europaweiten Krieg verwickelt zu werden, dessen Folgen unabsehbar waren. 

Als nun beidseitig kräftig an den Strippen gezogen worden war, um die Pressehetze einzudämmen, konnte es an die juristische Aufarbeitung des Falles gehen. Wie bei Massenschlägereien nicht ungewöhnlich, widersprachen sich die Einzelaussagen der Beteiligten und der neutralen Zeugen völlig. Die deutschen Matrosen behaupteten, die Franzosen vom Aviso „Chateau Renaud“ hätten die Schlägerei begonnen, was die französischen Matrosen genau andersherum sahen. Die anwesenden griechischen Kaufleute und ein türkischer Polizist bestätigten indes, daß die Franzosen die Schlägerei angefangen hatten, konnten aber bei der persönlichen Gegenüberstellung den eigentlichen Totschläger unter den französischen Matrosen nicht zweifelsfrei identifizieren. Gleichfalls anwesende englische Marinesoldaten konnten bzw. wollten sich aber partout an keine Details erinnern. So blieb der Totschlag am Feuerwerksobermaat Rosenstein ungesühnt.  Immerhin wurden vier französische Kriegsschiffmatrosen wegen Entfachung einer Schlägerei und Körperverletzung zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und einem Jahr Gefängnis verurteilt. 

Wenige Monate darauf brach der russisch-türkische Krieg von 1877/78 aus, der tatsächlich beinahe zum europäischen Krieg mutiert wäre. Dank der Anstrengungen von Fürst Bismarck, und natürlich auch der des französischen Außenministers Louis Duc de Decazes gelang es, einen solchen Krieg zu verhindern. Als im Jahr 1914 keine Staatsmänner vom Format Bismarcks und Decazes’ mehr in beiden Ländern regierten, gelang dies dann nicht mehr.