© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Das harte Musterländle
Wirtschaftspolitik: Der Tigerstaat Singapur ist ein ökonomisches Erfolgsmodell / Bildung, moderate Steuern und effizientes Rechtswesen
Albrecht Rothacher

Wer hat weltweit die höchste Rate an Hochschulabsolventen? China, Japan, Südkorea? Vielleicht das europäische Pisa-Vorzeigeland Finnland? Nein, es ist der südostasiatische Stadtstaat Singapur. Sechs von zehn jungen Leuten gehen auf eine Universität, 40 Prozent von ihnen studieren sogar im Ausland. Das schlägt sich in den ökonomischen Kennzahlen nieder: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt laut Weltbank mit 56.286 Dollar vor den USA (54.629), Deutschland (47.627) oder Hongkong (40.169).

Vor 50 Jahren, als Premier Lee Kuan Yew am 9. August 1965 tränenreich die Trennung seines Inselstaates von Malaysia verkündete, hätte das kaum jemand gedacht. Die Hafenstadt Singapur mit ihrer damals sehr linken People’s Action Partei (PAP) wollte von den reaktionären muslimischen Sultanen Malaysias nicht länger ausgebeutet werden. Das hatte der in England ausgebildete Advokat Lee listenreich eingefädelt. Nur als Teil eines Gesamt-Malaysias hatte London seiner Kronkolonie Singapur die Unabhängigkeit gewährt. Sonst hätten die Briten auf diesen wichtigen Flotten- und Handelsstützpunkt noch lange nicht verzichtet.

Ein Gewerkschaftsanwalt schuf das Wirtschaftswunder

Lee, der Vater der Nation, der im März 91jährig allseits betrauert verstarb, entstammte einer chinesischen Händlerfamilie. Unter der japanischen Herrschaft, als die Stadt Shonan-to hieß, arbeite Lee als Schwarzhändler und Übersetzer für die Besatzungsmacht. Nach der Rückkehr der Briten erlebte Lee mit Entsetzen, wie die alte koloniale Schlamperei und die kriminelle Unterwelt mit ihrem Heroinhandel wieder Einzug hielt und wie ständige blutige Rassenkrawalle zwischen Chinesen, Malaien und Indern für dauernde Unruhen und Opfer sorgten. Lee machte sich einen Namen als Gewerkschaftsanwalt und erreichte die Freisprüche von Totschlägern, die seinen Memoiren zufolge lieber hätten gehängt werden sollten. 1954 schuf Lee die PAP, die noch heute Singapur als Staatspartei mit absoluten Mehrheiten regiert. Damals hatte Singapur ein Pro-Kopf-Einkommen von 550 Euro im Jahr – heute sind es hundertmal soviel. Die Lebenserwartung stieg von 66 auf 84 Jahre und ist damit vier Jahre höher als in Deutschland. Wenn das multikulturelle Singapur heute nicht nur reicher und sicherer als Manila oder Jakarta, sondern auch wohlhabender als die meisten Großstädte Europas oder Nordamerikas ist, ist dies sicher Lees einzigartiges Verdienst.

Ab 1965 sorgte Lee zunächst ruchlos für Ordnung. Er ließ die Strafen der britischen Kolonialmacht für Mord und Drogenschmuggel (Aufhängen), für Körperverletzungen und Vandalismus (Auspeitschen mit Rattanstöcken) sowie für subversive Aktivitäten (unbefristete Haft ohne Prozeß) in Kraft. Wer Tätowierungen der chinesischen Triaden aufwies, erhielt automatisch ein Jahr Knast. Dissidenten wurden zwar nicht umgebracht, aber so lange mit Beleidigungsprozessen überzogen, bis sie pleite waren. Zeitungen und Fernsehen wurden von regierungsnahen Investoren aufgekauft und dürfen über alles schreiben – nur nicht über die Innenpolitik Singapurs und den Einfluß des Lee-Klans.

Die Einkommensteuer liegt bei maximal 22 Prozent

Um Rassenkrawalle zu verhindern, wurden die Chinesen, die mehr als drei Viertel der Bevölkerung stellen, zusammen mit den muslimischen Malaien (16 Prozent) sowie den Indern und Tamilen (acht Prozent) mit Brutalität und sozialem Ingenieurwesen gezwungen, in gemeinsamen Wohnblöcken mit Gemeinschaftsküchen zu leben. So konnte niemand mehr einen Block anzünden, ohne dabei auch die eigenen Religions- und Rassengenossen zu schädigen. Gleichzeitig wurde eine Kunstnation geschaffen, der nach Lee eigentlich alles fehlte: eine gemeinsame Ethnie, eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Religion, eine gemeinsame Geschichte und eine Vision der Zukunft.

Um das Unmögliche zu schaffen, half nur Zwangspädagogik gepaart mit Erziehungskampagnen, etwa zur Freundlichkeit und zum Englischsprechen. Es gab Kampagnen zum Baumpflanzen, weil Lee wollte, daß Singapur eine grüne Insel wurde, sichtbar in den blühenden Alleebäumen vom Changi-Flughafen zur Innenstadt. Als Lee merkte, daß seine Funktionäre nur die Pflanzungen vornahmen und sich nachher nicht mehr um sie kümmerten, zwang er sie zum regelmäßigen Gießen. Das gleiche bei der Säuberung der Slums: Lee wirkte bei Abfallsammlungen und Straßenputz mit und zwang die PAP-Apparatschiks zum Mittun. So wurde Singapur sauber und grün und ist es auch heute noch. Noch wichtiger waren die marktwirtschaftlichen Initiativen der PAP. Ein Freihafen lebt vom Freihandel. Deshalb wurden die Steuern niedrig und die Verwaltungsprozeduren so effizient wie möglich gestaltet.

Bereits in den sechziger Jahren wurde mit der Petrochemie und Werftindustrie eine großindustrielle Basis geschaffen. Mit dem Aufstieg Chinas und der Rolle Singapurs als Fluchtburg der Auslandschinesen vor den Pogromen in Indonesien begann seine Rolle als nach New York, London und Hongkong viertgrößtes Finanzzentrum und nach Schanghai zweitgrößter Hafen der Welt. Dazu ist Singapur als Rohstoffbunker Asiens größter Markt für Rohstoffe, den Devisenhandel und die Vermögensverwaltung. Die Pflege des englischen Rechts sorgt für Offenheit und Integrität. Die Kapitalertragsteuern betragen gerade einmal 17 Prozent und der Spitzensatz der Einkommensteuer 22 Prozent. Gleichzeitig sind die öffentlichen Dienste von der Polizei bis zur Müllabfuhr supereffizient.

Lee gelang es trotz seiner Einheitspartei, mit einem kompetenten Technokratenregime die Korruption auszurotten. Wer sich etwas zuschulden kommen läßt, wird gnadenlos bestraft. Die PAP hält mit 60 Prozent der Stimmen weiter 81 von 87 Parlamentssitzen. Wenn sie eine Nachwahl gegen die linke Arbeiterpartei (WP) verliert, gilt dies als Sensation.

Die Wohlstandsinsel Singapur ist inzwischen zu einem bevorzugten Ziel von Zuwanderern geworden. Das stößt bei der angestammten Bevölkerung auf starke Vorbehalte. In einer jener seltenen Demonstrationen protestierten kürzlich 3.000 Bürger am „Speakers’ Corner“ des Hong-Lim-Parks mit der Parole „Singapur den Singapurern“. Die Politik steckt dabei in einem Dilemma: Die Geburtenrate liegt mit 1,2 Kindern unter der Deutschlands und Japans. Die Regierung hat dagegen ein Bevölkerungswachstum von 5,5 auf sieben Millionen im Jahr 2020 vorgegeben, um das Wirtschaftswachstum von sechs Prozent aufrechtzuerhalten.

Kinderprämien oder mehr Fachkräftezuwanderung?

Trotz Kinderprämien von umgerechnet 5.000 Euro für die ersten beiden und 9.000 für die weiteren Kinder steigt die Geburtenrate nicht. Vor allem Chinesinnen schieben die Eheschließung weiter auf, bis es zu spät ist. Bei ihren Ehemännern sind sie hauptsächlich an den „5 C“ interessiert: Cash, Car, Credit Card, Condominium, Country Club – materiellen Statussymbolen, die nur wenige bieten können. So rächt sich der depolitisierte Materialismus eines perfekt globalisierten Inselstaates. Die Einwanderer, die als Gastarbeiter schon 37 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachen, werden für alles Mögliche verantwortlich gemacht: die stagnierenden Gehälter, die steigenden Kosten für Wohnung und Verkehr, die Überfremdung.

Und es ist die linke Oppositionspartei WP, die jene Themen gegen die Technokratenpartei PAP vorbringt, die von Lees Sohn, Premier Lee Hsien Hoong, geführt wird. Auch Lees neue Kampagne „Earn and Learn“, die Schüler überzeugen soll, statt auf die Uni auf eine technische Schule zu gehen, ist eine Reaktion auf die Nebenwirkungen der Methode, Fachkräftemangel durch Zuwanderung auszugleichen.