© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der Mailänder Hauptbahnhof wirkt wie eine Illustration für Susan Sontags Feststellung, daß zwischen faschistischem Stil und Art déco, wenn überhaupt, dann nur ein gradueller Unterschied besteht. Natürlich ist vieles erwartbar, etwa die Muskulösen, die die Flügelpferde über dem Haupteingang bändigen, die Allegorien von Bauern und Soldaten mit den Fasces, die Szenen aus der römischen Geschichte, aber die Köpfe der Roma in der Haupthalle erinnern mit dem zur Schädelkappe reduzierten Helm an Figuren aus Fritz Langs „Metropolis“. Dazu kommt die Betonung des Flächigen, das Meiden des Naturalistischen, das Spielerische und Eklektische in der Auswahl der architektonischen Elemente und deren Kombination mit den Möglichkeiten moderner Bauweise, etwa bei der Stahl-Glas-Konstruktion der Bahnsteighalle.

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Wir gehen in den Süden um des Lichts und der Wärme willen. Was die Natur dort im Übermaß und unbestreitbar hat, übertragen wir zu selbstverständlich auf das Gemüt der Menschen, sind berührt oder wenigstens überrascht von der dauernden – lauten – Kommunikation, mit oder ohne technische Hilfsmittel, von der Art, die Kinder zu herzen, dem strahlenden Lächeln bei jeder Serviceleistung. Aber diese Wahrnehmung ist doch in vielem Oberfläche: Italien hat auch die Renaissance und das technische Genie eines Leonardo hervorgebracht, die doppelte Buchführung, den Machiavellismus und die unerbittliche Lehre Paretos vom ewigen und ewig sinnlosen „Kreislauf der Eliten“ als letztem Geheimnis der politischen Geschichte. Rudolf Borchardt, der einen großen Teil seines Lebens südlich der Alpen verbrachte, soll von einem „alten, kalten Volk“ gesprochen haben.

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Beim ersten Besuch eines italienischen Museums in den siebziger Jahren interessierte sich kein Aufsichtführender, dann wuchs der Zustrom und das Personal nahm, mißmutig, seine Pflicht wahr. Seitdem es Überwachungskameras gibt, bleiben die meisten auf ihren Stühlen sitzen und dösen vor sich hin; erst durch die segensreiche Erfindung des Mobiltelefons ergibt sich eine Möglichkeit, der lähmenden Langeweile zu entfliehen. Seitdem kann man Kurznachrichten schreiben oder Spiele spielen, allein oder in Gruppen, die man gelegentlich in Ecken der Gebäude sieht. Allerdings ist damit auch die Reizbarkeit gewachsen und die Reaktion entsprechend harsch, wenn der Fremde kommt und mit einem Anliegen stört, während man gerade eine imaginäre Patience legt. In Erinnerung bleibt der scharfe Kontrast dazu in der Ausnahmegestalt des übertrieben höflichen und zuvorkommenden Herrn, der am Eingang seines Bereichs jeden mit „buon giorno“ begrüßt und das Vorzeigen der Karte mit einem „grazie“ quittiert. Der Duftwolke entkommen, die ihn umgibt, ist man dankbar für den schläfrigen Kollegen im nächsten Saal.

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Zu den eher unerwarteten Haarmoden gehört im Italien der Gegenwart das kleine Zöpfchen oben auf dem Männerschädel. Die feminine Wirkung ist aber nur eine auf den ersten Blick. Diejenigen, die sich solches erlauben, lassen ansonsten keinen Zweifel an ihrer Maskulinität, was Bartwuchs, Tätowierung oder trainierte Statur angeht. Wahrscheinlich handelt es sich um den Einsatz jener Vexierwirkung, die man aus der Geschichte des Kriegerkostüms kennt. Der Suebenknoten etwa, eine Art nach vorne verrutschter Dutt, der bei den Vorfahren der Schwaben verbreitet war, galt als Tapferkeitsauszeichnung, obwohl auch er weiblicher Frisierpraxis entsprach. Das war kein Spiel mit Geschlechterrollen, sondern eine wohlkalkulierte Irritation, Betonung der Männlichkeit durch ihr Gegenteil wie im Fall des Perlenohrgehänges, das sich Francis Drake und seine Freibeuter stehen ließen, oder jenes Oberhemds in Rosa, das nur Männer, nur echte Männer, tragen können.

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Der entspannte Umgang der Italiener mit ihrer jüngeren Vergangenheit ist für einen Deutschen immer wieder überraschend. Da gibt es in einer ligurischen Mittelstadt nicht nur ein verfallendes Ferienheim der früheren faschistischen Nationalpartei, das zum Wellnesstempel umgebaut wird, sondern auch gleich gegenüber dem Bahnhof eine „Straße der Goldmedaille“, die links und rechts die Büsten der Tapferen schmückt, unter Einschluß jenes Leutnants der Schwarzhemden, der sich 1936 heldenhaft gegen äthiopische „Rebellen“ schlug.

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Man geht durch die Exposition mit herausragenden Gemälden der Renaissance. Praktisch keine der Figuren hat dunkles Haar, wirkt „typisch italienisch“.

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Als der Betrachter die Stazione Centrale verläßt, hört er hinter sich Schritte. Ein Beamter in der Uniform der Staatsbahnen kommt näher, schließt auf, nickt kurz zur Begrüßung und sagt mit wissendem Lächeln: „Un edificio grande“ – „Ein großes Gebäude“.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 21. August in der JF-Ausgabe 35/15.