© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Kauders Paradox
Ausgerechnet die aktuelle Debatte um die Euro-Politik zeigt, wie Demokratie eigentlich funktionieren sollte
Michael Paulwitz

Der frei gewählte, an keine Weisungen gebundene und nur seinem Gewissen unterworfene Abgeordnete ist eines jener Idealbilder, das bei genauerem Hinsehen nur selten mit der rauhen Wirklichkeit in Deckung zu bringen ist. Wie die meisten Verfassungsgebote bezieht auch dieses Ideal seine Autorität vor allem daraus, daß keiner es offen in Frage zu stellen wagt.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat mit seiner Drohung, „Abweichler“ von der Linie der alternativlosen Griechenland-Retterei von relevanten Parlamentsfunktionen fernzuhalten, den stillschweigenden Konsens gebrochen, nach dem die einen so tun, als würden sie stets freiwillig der Fraktionsführung folgen, und diese wiederum vorgibt, niemanden dazu zu zwingen. Dem Grundgesetz-Artikel 38 hat er damit tatsächlich einen kräftigen Tritt versetzt: Von Fraktionszwang, freundlicher: „Fraktionsdisziplin“, steht dort nichts, auch wenn das Bundesverfassungsgericht verständnisvolle Worte für die Fraktionsapparate als „Faktoren der politischen Willensbildung“ gefunden hat, ohne die der einzelne Abgeordnete sich vermeintlich kaum Gehör verschaffen könnte. Kauder hingegen hat unmißverständlich klargestellt, daß er die Fraktion vor allem als Transmissionsriemen für die reibungslose Umsetzung von Regierungspolitik betrachtet.

Vieles an der Empörung, die darauf anhub, ist freilich nur gespielt. Die Drohung, die der Fraktionschef gezielt in einem Interview plaziert hat, entspricht schließlich einer lange geübten Praxis; der Tabubruch besteht vor allem im offenen Aussprechen. Kauder hat die vielbeschworene „Geschlossenheit“ der Unionsfraktion, ebenso wie seine Vorgänger, auch in all den Jahren zuvor mit genau diesen Mitteln hergestellt: Wer nicht spurt, landet auf dem Abstellgleis und muß sich unter Umständen um seine Wiederwahl keine Sorgen mehr machen, weil er gar nicht erst wieder aufgestellt wird, sei es als Direktkandidat oder auf einem sicheren Listenplatz. 

So mancher, der sich heute empört und mit dem Grundgesetz unterm Arm in die Brust wirft, hat sich diesem Zwang bislang gern unterworfen, solange es nicht richtig weh tat und keine Nachteile zu fürchten waren. Das unsaubere Geschäft – Linientreue gegen Versorgungssicherheit – wird durch die schwache Stellung des Abgeordneten im deutschen System begünstigt. Im britischen Parlament beispielsweise sind die Machtgewichte zwischen dem Egoismus des mit einem starken Direktmandat ausgestatteten Abgeordneten, dem die Partei kein Listen-Auffangnetz bieten kann, wenn er beim Wähler durchfällt, und dem Gefolgschaftsbedürfnis der Fraktionsapparate besser austariert; den Fraktions-Disziplinierer als „Whip“ – Peitschenschwinger – zu bezeichnen, findet niemand anstößig, weil sein Drohpotential limitiert ist. Und über Schweizer Politikern schwebt das Schwert der direkten Demokratie, um sie bei Bedarf auf den Boden des Wählerwillens zurückzuholen.

Deutschlands Parlamentarier haben sich dagegen freiwillig sogar noch kleiner gemacht. Die Selbstverzwergung der Parlamente hat sich auf zwei Gleisen abgespielt: durch die willige Unterwerfung der Berufspolitiker unter die wachsende Allmacht der Partei- und Fraktionsapparate, die sich sukzessive alle Machtmittel angeeignet haben, um über die Schicksale des „parlamentarischen Stimmviehs“ zu entscheiden, und an denen kein Weg zu den Futtertrögen vorbeiführt.

Das Pendant dazu ist die Entmündigung der Parlamente durch die Regierenden, die den Umstand ausgenutzt haben, daß gutgefütterte Parlamentarier ihnen willig das Denken überlassen haben, und Entscheidungsprozesse systematisch aus den Volksvertretungen weg- und in die Exekutive hineinverlagert haben: in selbstgebastelte Kommissionen und Expertengremien, und nicht zuletzt auf dem Umweg über Europa, wo die Machteliten mit ihresgleichen als neue politische Klasse kungeln und ihre Völker austricksen. Mehr als vier Fünftel aller parlamentarischen Entscheidungen, monierte Altbundespräsident Roman Herzog schon vor Jahren, würden in Brüssel fertig vorgekaut und von den Abgeordneten nur noch geschluckt.

Diese Simulation von Politik ging solange gut, als kaum jemand sich groß gekümmert hat, was da in den Parlamenten so verhandelt wird. Jetzt aber gibt es, ernsthaft wie lange nicht mehr, nicht nur etwas zu entscheiden, sondern auch Bürger, die zunehmend nachfragen, was ihre Abgeordneten in bestimmten Fragen so treiben. Die hohe Zahl der Abweichler bei der letzten Griechenland-Abstimmung – fast zwanzig Prozent der Unionsfraktion, darunter nicht nur populäre Exoten, sondern eine nicht unbeträchtliche Zahl von Neulingen – zeugt von wachsendem Druck von der Basis. 

Die seit Jahren sich dahinschleppende Farce der rechts- und regelwidrigen Griechenland-„Rettungen“ bringt damit, paradoxerweise, eine Ahnung davon zurück, wie Demokratie eigentlich funktionieren sollte: mit Abgeordneten, die vor schicksalhaften Entscheidungen Argumente wägen müssen, mit Medien, die, noch vereinzelt, aber unüberhörbar, kritische Fragen stellen, und Bürgern, die von ihren Vertretern Rechenschaft einfordern. 

Wunder sollte dennoch keiner erwarten: Das Gros der Abgeordneten ist nach wie vor unempfänglich für das Gewicht der eigenen Verantwortung. Und so mancher Abweichler muckt wohl weniger aus ehrlicher Überzeugung auf als mit vollen Hosen vor den Leuten im Wahlkreis, die unangenehme Fragen stellen. Aber so läuft Demokratie: über Regulative und Korrektive, die den Volkswillen an die Repräsentanten bringen und von dort an die Mächtigen. Es ist dieser plötzliche Einbruch demokratischer Normalität in den Berliner Politikbetrieb, der Volker Kauder offenbar so nervös gemacht hat, daß er sich zu offenen Drohungen hinreißen ließ, wo sonst Andeutungen genügten. Wenn seine eingeübte Machtmaschinerie dermaßen ins Stottern kommt, ist das erst mal eine gute Nachricht.