© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Militärdienst – nein danke
Zuwanderung: Der Exodus der Eritreer bewegt vor allem die Schweizer – Asyl oder nicht?
Marc Zoellner

Eine heiße Debatte hält die Schweiz dieser Tage in Atem: Dürfen Flüchtlinge fliehen und wenn ja, aus welchen Gründen? Auslöser der Diskussion war ein offener Brief des Luzerner Regierungsrats Guido Graf an Simonetta Sommaruga, die Präsidentin der kleinen mitteleuropäischen Eidgenossenschaft. 

In diesem auf der Website seines Kantons veröffentlichten Schreiben warnt Graf, der gleichzeitig auch als Sozial- und Gesundheitsdirektor für Luzern fungiert, Sommaruga vor einem „enormen Anstieg von Asylgesuchen“ in seiner Heimatregion. Über 167 Flüchtlinge, so der Politiker der christlich-demokratischen CVP, wurden allein im Juni in der Hauptstadt des rund 395.000 Einwohner umfassenden Kantons gezählt. Doch sein eigentlicher Aufreger – und zugleich der Aufhänger der Debatte – betraf eine einzige Ethnie.

Denn drei Viertel aller Zuwanderer, schreibt Graf, stammten allein aus Eritrea, im Juni beispielsweise 122 der 167 in Luzern Aufgenommenen. Von seiner Präsidentin möchte Graf wissen, ob diese überhaupt noch unter den Begriff der Asylberechtigten fielen. „Tatsächlich“, so Graf, „dürften die schwierige wirtschaftliche Situation und der drohende Militärdienst für Männer und Frauen schlechte Perspektiven für junge Leute aus Eritrea sein. Allerdings sind dies keine Asylgründe“, beschließt der konservative Regierungsrat und mahnt, „durch eine zu großzügige Asylpraxis“ würde lediglich „der Massenexodus aus diesem Land geförder“.

Grafs Brandbrief traf den Nerv der  Eidgenossen. Plötzlich sprangen auch andere Parteien, von der liberalen FDP bis hin zur rechtsbürgerlichen Schweizerischen Volkspartei (SVP), auf den fahrenden Zug. Die Frage, ob und inwieweit Eritreer in der Eidgenossenschaft zu begrüßen seien, wird seitdem offen über politische Grenzen hinweg und bis in die Feuilletons der Leitmedien hinein debattiert. Denn abseits der Flüchtlingsproblematik ist Eritrea in der Schweiz kein sonderlich bekanntes Land. Das hat seine Gründe, die jedoch gerade in Eritrea selbst zu suchen sind.

Unbestritten ist, daß Eritrea, an der ostafrikanischen Küste am Roten Meer gelegen, eine der skurrilsten Diktaturen des Schwarzen Kontinents darstellt. Dreißig Jahre lang, von 1961 bis 1991, kämpfte die marxistische Eritreische Volksbefreiungsfront EPLF in einem blutigen, rund 300.000 Menschenleben fordernden Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit des Landes vom benachbarten Äthiopien. Der Konflikt endete jedoch nicht nur in einem teuer erkauften Sieg der Separatisten. Er mündete auch in einer seit 1993 bestehenden Einparteienherrschaft unter dem jetzigen Präsidenten des Landes, Isaias Afwerki.

Radikal-autoritäre Führung treibt viele aus dem Land 

Eines der großen Staatsgeheimnisse Eritreas und zugleich Grundlage seiner radikal-autoritären Politik stellt die Herkunft Afewerkis dar. Offizielle Biographien existieren über den Präsidenten der „Übergangsregierung“, wie sich das eritreische Kabinett seit 1993 zu nennen pflegt, nicht. Fest steht allein, daß Afewerki am 2. Februar 1946 in der derzeitigen Hauptstadt Asmara geboren wurde. Auch seine federführende Rolle beim Aufbau der EPLF ist bekannt. 

Seine Eltern jedoch, so das sich hartnäckig im Land und in der Diaspora haltende Gerücht, seien keine Eritreer gewesen, sondern sollen aus der benachbarten, zu Äthiopien gehörenden Provinz Tigray stammen. Diese hatte zusammen mit Eritrea seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Aufstand gegen das Regime in Addis Abeba geprobt; für sich jedoch erfolglos.

Um die Vorherrschaft in ebenjener Provinz eskalierte 1998 ein weiterer verheerender Konflikt zum Krieg, als eritreische Truppen von der Grenzstadt Badme aus auf äthiopisches Gebiet vordrangen. Nach zwei Jahren brutaler und verlustreicher Frontkämpfe hielt Äthiopien am Ende ein gutes Viertel des eritreischen Staatsgebiets besetzt. 

In Eritrea wiederum sah Afewerki in der verlorenen Schlacht eine hervorragende Begründung zur Aufrechterhaltung seiner Alleinherrschaft sowie zur weiteren Nichtratifizierung der eigentlich schon 1997 erarbeiteten Verfassung des Landes. 

Sich geradezu paranoid vor einer erneuten Besetzung Eritreas durch Äthiopien fürchtend, militärisierte der Präsident die komplette Gesellschaft seines Landes: Sämtliche Bürger sind nun wehrpflichtig, der ursprünglich auf 18 Monate veranschlagte Wehrdienst kann auf unbegrenzte Zeit verlängert werden. Gemessen an der Bevölkerung in Höhe von knapp fünf Millionen Menschen besitzt Eritrea seitdem nach Nordkorea das zweitgrößte Heer der Welt.

Außenpolitisch unterstützte Afewerki überdies die somalische Union Islamischer Gerichte, später auch die radikalislamische al-Shabaab-Miliz, den militantesten Widersacher Äthiopiens am Horn von Afrika (JF 8/12). Im Land selbst herrscht ein Klima der Angst: Ein breites Netzwerk an Geheimdiensten spitzelt bis in familiäre Angelegenheiten hinein. Tausende verschwinden jedes Jahr auf offener Straße, darunter insbesondere Journalisten und Oppositionspolitiker, aber auch Fluchthelfer. 

Auf Flüchtlinge wird an den Grenzen scharf geschossen. Wer es dennoch bis in den Sudan schafft, dessen Familien werden nicht selten in eines der vielen Arbeitslager verschleppt. Eine freie Presse oder ein freies Internet existieren nicht einmal auf dem Papier. Seit der Auflösung der meisten Polizeieinheiten sind Folter und Mord durch den Staatsschutz an der Tagesordnung. 

Doch trotz aller Repression wagen seit  Beginn der 2010er Jahre jeden Monat bis zu 5.000 Eritreer die Flucht. Etwa eine halbe Million, gut zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, leben bereits im Ausland in der Diaspora. Tendenz steigend. 

Daß deren ungebremste Aufnahme an der Situation in Eritrea selbst nichts ändern wird, ist auch im schweizerischen Genf sämtlichen Parteien bewußt. Der Brandbrief des Luzerner Regierungsrats Guido Graf gehe jedoch „von einer falschen Grundannahme aus“, urteilte Simonetta Sommaruga einen Tag nach Erhalt des Schreibens. „Eritrea ist eine Diktatur, ein Willkür- und Unrechtsstaat“, in welchen man keinen Flüchtling rückführen dürfe, so die eidgenössische Bundespräsidentin. Konträr zur SVP, deren Vorsitzender Toni Brunner von Afewerki im Gegenzug zur Abschiebung seiner Bürger nach Eritrea eine generelle politische Amnestie für diese verlangt, geht die FDP sogar noch einen Schritt weiter: mit der Forderung der Schließung des eritreischen Konsulats in der Schweiz.

Foto: Somalier und in erster Linie Eritreer in einem Lager im libyschen Misrata: Lediglich eine Zwischenstation auf dem Weg nach Norden