© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Plädoyer für eine Fehlkonstruktion
Wirtschaftspublizistik: Für Thomas Piketty ist die „Schlacht um den Euro“ noch nicht in Gang gekommen
Felix Dirsch

Kein Ökonom hat in den vergangenen Jahren einen Thomas Piketty vergleichbaren Erfolg erzielen können. Der am Hochschulverbund École d’Économie de Paris lehrende 44jährige hat einen statistik- und diagrammgesättigten Bestseller auf den Markt gebracht, der seinesgleichen sucht. Die Studie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (JF 3/15) will einen archimedischen Punkt finden, von dem aus alle Übel der Wirtschaft einsehbar werden.

Seine „Weltformel“ besagt, daß seit vier Jahrzehnten die Kapitalrendite, vornehmlich das Finanz- und Immobilienkapital, stärker als das Nationaleinkommen wächst. Obwohl die Datengrundlage für derartige Diagnosen umstritten ist, hat Piketty damit eine heftige Kontroverse ausgelöst. Binnen kurzer Zeit sind etliche Schriften darüber erschienen, von denen die Arbeit Ulrich Horstmanns („Alles, was Sie über ‘Das Kapital im 21. Jahrhundert’ von Thomas Piketty wissen müssen“, Finanzbuch Verlag 2014) hervorzuheben ist.

Gemeinschaftswährung als Brandbeschleuniger

Die Popularität des bekennenden Unterstützers des sozialistischen Staatspräsidenten François Hollande ausnutzend, kam jüngst eine Sammlung von Artikeln auf den Markt, die alle in der einst von Jean-Paul Sartre herausgegebenen und heute eher linksliberalen Zeitung Libération erschienen sind. Piketty publizierte sie in dem Zeitraum von 2008 bis 2015. Auf diese Weise werden seine Ansichten über die Euro- und Schuldenkrise von deren Höhepunkt über einige Jahre hinweg ausführlich dokumentiert.

Die Schriftensammlung ist in drei Teile gegliedert: Unter der Überschrift „Tausend Milliarden Dollar“ (2008 bis 2009) thematisiert der Verfasser die Rettungs- und Bankenstützpolitik in Folge der Lehman-Pleite. Es folgt „Europa gegen die Märkte“ (2010 bis 2011). In diesem Abschnitt werden die Folgen der Rettungspolitik für die Aufblähung der Staatsschulden erörtert. Den Abschluß bildet „An die Urnen, Bürger!“ (2012 bis 2015).

Eine Schlacht um den Euro findet allerdings eigentlich nicht statt, da ihn keine relevante Kraft in Europa in Frage stellt und seine Rettung überall zur Schicksalsfrage stilisiert wird. Insofern ist der Titel irreführend. An keiner Stelle wird die kritische Frage gestellt, ob die Gemeinschaftswährung nicht eher als Brandbeschleuniger gewirkt hat, etwa bei der übermäßigen Verschuldung einiger Staaten. Für Piketty ist evident, daß das Werk der Einigung unvollendet ist. Es bedürfe weiter einer Vergemeinschaftung der Schulden, weil nur so der Zinssatz gesenkt werden könne.

Ein Wetten auf die in Europa bekanntlich unterschiedlich gewichteten Schuldtitel der Euro-Länder sei unter diesen Umständen kaum mehr möglich. Auch vor Forderungen wie der einer umfassenden Veränderung der EU-Verträge schreckt er nicht zurück.

Immerhin ist Piketty so fair, nicht den Deutschen allein den Schwarzen Peter für die zentralen ökonomischen Probleme der EU zuzuschieben. Er würdigt Pläne des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Fünf Wirtschaftsweise“), der 2012 in seinem „Europäischen Schuldentilgungspakt“ vorschlug, alle Schulden jenseits der 60-Prozent-Grenzen des Bruttoinlandsprodukts zu vergemeinschaften wie auch einen CDU-Beschluß, den EU-Kommissionspräsidenten direkt von der Bevölkerung wählen zu lassen.

Piketty verteidigt in fast jeder der 41 Interventionen seine Weltsicht, wirbt für linke Parteien wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland und warnt vor dem Front National. Problematisiert wird hauptsächlich die steuerliche Behandlung der weltweit reichsten Bürger. Microsoft-Gründer Bill Gates oder L’Oréal-Hauptanteilseignerin Liliane Bettencourt zahlten zu wenig Steuern – doch die entscheidende Frage wird dagegen nicht erörtert: Was machte der Staat (oder sollte er machen) mit den erhöhten Einnahmen, die er unter Umständen abschöpfen könnte? Für Piketty und viele seiner Claqueure ist klar: Der Staat kann besser mit Vermögenswerten umgehen als der einzelne Unternehmer oder einzelne Erbe, der diese – auf welchem Weg auch immer – legal erworben hat.

Weiter wachsende Begehrlichkeiten des Fiskus

Selbstverständlich sind keineswegs alle Zwischenrufe des Intellektuellen zurückzuweisen. Manches von dem, was vernünftig ist, wird seit einiger Zeit praktiziert. Doch die Bemühungen, Steuerschlupflöcher und -oasen zu beseitigen, schränken zugleich die Spielräume aller Bürger ein, ihr sauer verdientes Geld vor übermäßigen Begehrlichkeiten des Fiskus zu retten. Auch das stereotype Argument, es handle sich bei Vermögen öfters um Erbschaften, nicht um persönliche Verdienste des Besitzenden, geht ins Leere, da diese Werte ja zumeist von den Vorfahren erwirtschaftet wurden. Insofern ist gegen eine Transferierung auf die Erben nichts einzuwenden.

Positiv hervorzuheben ist Pikettys grundlegendes Bekenntnis gegen den Protektionismus. Diese Haltung unterscheidet ihn von den meisten Globalisierungskritikern, wenngleich er sich ein Hintertürchen offenhält, das ihn wiederum von den Verfechtern der Freihandelslehre abhebt.

Kurz und gut: Die reißerische Aufmachung hält nicht, was sie verspricht. In den primär auf das aktuelle Tagesgeschehen abzielenden Kommentaren eines der derzeit bekanntesten Professoren des Nachbarlandes lernt man einiges über die ökonomische Seele der europäischen Linken, mehr aber auch nicht. Piketty macht sich nicht viel Mühe, Hollandes geringen wirtschaftlichen Sachverstand wissenschaftlich zu verbrämen.

„Der Europäische Schuldentilgungspakt“:  sachverstaendigenrat-wirtschaft.de





Kontroverse um deutsche Schulden

Der französische Ökonom Thomas Piketty behauptete im Rahmen einer Euro-Debatte in der Zeit (26/15), daß Deutschland das Land sei, „das nie seine öffentlichen Schulden zurückgezahlt hat“. Der SPD-Historiker Christopher Kopper widersprach dieser These: „Piketty irrt mit seiner Vermutung, die europäischen Staaten hätten den größten Teil von Deutschlands Kriegskosten getragen“, schrieb der Bielefelder Professor in der Zeit (29/15). Die deutsche Auslandsverschuldung sei deutlich niedriger als die Inlandsverschuldung gewesen, die zu Kriegsende bei 452 Milliarden Reichsmark lag. „Die Sowjetunion holte sich von 1945 bis 1953 Reparationen im Gesamtwert von 19 Milliarden Dollar aus der DDR“, so Kopper. Durch die Währungsreform 1948 verblieben von 1.000 ersparten Reichsmark lediglich 65 D-Mark: „Es waren daher die privaten Haushalte und die Unternehmen, die für einen großen Teil der Nazi-Schulden aufkommen mußten.“ Durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 habe die Bundesrepublik profitiert: es habe die Vor- und Nachkriegsschulden von 30 auf 15 Milliarden D-Mark reduziert.

Thomas Piketty: Die Schlacht um den Euro – Interventionen. C.H.Beck Verlag, München 2015, broschiert, 175 Seiten, 14,95 Euro