© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Motor der Integration
Europäischer Gerichtshof: Das Gericht entzieht den EU-Staaten mehr und mehr Kompetenzen und greift damit grundlegend in die Rechtsordnungen der Staaten ein
Mario Jacob

Kaum ein Tag vergeht, an dem die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht Recht sprechen. Sie bekräftigen, daß das EU-Recht über nationalem Recht stehe, kippen deutsche Sprachtests für Ehegattennachzug aus der Türkei, geben grünes Licht für Kindergeldansprüche von Arbeitnehmern aus dem europäischen Ausland, gestatten Schweden, auch in Zukunft Bier und Wein unterschiedlich zu besteuern, und verurteilen Italien wegen fehlender Rechte für Homosexuelle. 

Freude oder Wut über die EuGH-Urteile fallen in den EU-Staaten entsprechend unterschiedlich aus. Einigkeit besteht dagegen laut dem Urteil des Wirtschaftswissenschaftlers Martin Höpner in der rechtswissenschaftlichen, politologischen und soziologischen Fachliteratur darüber, daß der Europäische Gerichtshof als „Motor der Integration“ das EU-Recht „expansiv interpretiert und damit faktisch Integrationspolitik betreibt“. 

Ganz so zugespitzt mochte es die Theodor-Heuss-Stiftung nicht formulieren als sie den Gerichtshof Mitte Mai mit dem Theodor-Heuss-Preis auszeichnete. Im Gegenteil. In ihrer Laudatio lobte die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger den EuGH nicht nur als „Hüter der im Primär- und Sekundärrecht verankerten Werte der EU“, der die „gelegentlichen Irrungen und Wirrungen des europäischen Gesetzgebers, häufig beeinflußt von nationalen Interessen“, korrigiere. Ohne Umschweife schilderte die FDP-Politikerin auch die Stoßrichtung der Preisverleihung: „Wir verbinden mit dem Preis die Hoffnung, Europa gegen Renationalisierung, Abschottung und Rechtspopulismus besser wappnen zu können, und hegen die Erwartung, daß Europa wieder stärker als Wertegemeinschaft wahrgenommen wird.“

So sah es auch Vasilios Skouris bei der Entgegennahme der Auszeichnung: „Viele Errungenschaften aus Europa sind auch das Ergebnis unserer Urteile.“ Überhaupt könne sich der EuGH „generell gesprochen“ nicht über „mangelnde Akzeptanz“ der Entscheidungen „beklagen“.

Der gebürtige Grieche ist seit 2003 Präsident des EuGH. Seine juristische Ausbildung absolvierte er größtenteils in Deutschland. Doch ganz so positiv wie Skouris sehen nicht alle die Tätigkeit des höchsten europäischen Gerichts: Vielmehr findet eine stetige Beschneidung der Kompetenzen der Mitgliedsstaaten statt. Hierdurch greift der EuGH immer stärker in die Rechtsordnungen der Staaten ein, so die Kritiker.

In aller Regel ist der Europäische Gerichtshof ein fernes Gericht. Fern von Brüssel, fern der Hauptstädte, fern von den Bürgern. Es gibt hier nicht so etwas wie die deutsche Verfassungsbeschwerde, die das Bundesverfassungsgericht so populär gemacht hat. Kein EU-Bürger kann sich direkt an den EuGH wenden, das können nur Regierungen oder die Gerichte der Mitgliedsstaaten.

Ab und an jedoch kommt eine Entscheidung aus Luxemburg, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, die die Politik bestimmt oder in Frage stellt. So wie im vergangenen Jahr, als Europas höchste Richter die Vorratsdatenspeicherung kippten. Aktuell hat die Bundesregierung das Thema wieder aufgegriffen und bastelt an einem neuen Gesetzentwurf. Aber auch die Entscheidungen zur Arbeitsmarkt-Reform der rot-grünen Koalition im Jahr 2003 und die Klage der Bundesrepublik gegen ein gesetzliches Tabakwerbeverbot der EU sorgten für lebhafte Diskussionen und Kritik. 

„Es kracht gewaltig im Gebälk der europäischen Rechtsprechung. Ursache ist der Europäische Gerichtshof, der mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen entzieht und massiv in ihre Rechtsordnungen eingreift“, schrieben etwa der frühere Bundespräsident Roman Herzog und der Ökonom Lüder Gerken 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Inzwischen hat er so einen Großteil des Vertrauens verspielt, das ihm einst entgegengebracht wurde.“ Als der EuGH 2006 ein gesetzliches Tabakwerbeverbot der EU guthieß, begründete er dies damit, daß der Binnenmarkt behindert werde, wenn das Verbot nicht EU-einheitlich umgesetzt werde. Herzog und Gerken sahen darin ein „konstruiertes Urteil“. Der EuGH habe den Umweg über den Binnenmarkt genommen, weil die EU keine gesundheitspolitische Kompetenz habe. Mit ihrem Aufsatz reagierten sie neben der Entscheidung zum Tabakwerbeverbot auch auf ein Urteil zur Arbeitsmarktreform. Hierbei ging es um die Herabsetzung der Altersgrenze für die Annahme uneingeschränkt befristeter Beschäftigungen von 58 auf 52 Jahre. Mit dieser Maßnahme wollte die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder die Einstellungschancen älterer Arbeitnehmer erhöhen.

Heftige Kritik an Nominierung der Richter 

Damals weigerten sich viele Arbeitgeber, Arbeitnehmer über 50 anzustellen, weil sie aufgrund des Kündigungsschutzrechts kaum eine Möglichkeit sahen, sich im Falle der Nichteignung von diesen Arbeitnehmern wieder zu trennen. Zwei Rechtsanwälte brachten die Sache vor den EuGH. Sie argumentierten, die Herabsetzung der Altersgrenze widerspreche der im Jahr 2000 von der EU verabschiedeten Anti-Diskriminierungsrichtlinie. Der Gerichtshof gab ihnen recht. 

Der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Hellmut Wißmann, sprach daraufhin von einer „bemerkenswerten Emanzipation vom Gesetzestext“. Im Gegensatz zu deutschen Richtern hätte der EuGH offenbar wenig „Bauchgrimmen“ dabei, Gesetzeslücken selbst zu füllen, wenn der Zweck einer Richtlinie dies erfordere. Die EU dürfe nach dem Subsidiaritätsprinzip nur dann tätig werden, wenn sie ein Problem wirklich besser lösen könne als die Mitgliedstaaten, argumentierten Herzog und Gerken. „Beispiele für diese Kritik sind mir noch nie genannt worden“, behauptete dagegen EuGH-Präsident Vassilios Skouris. Seinem Gericht würden regelmäßig Aussagen unterstellt, die sich aus den Urteilen nicht ableiten ließen.

Jedes Mitgliedsland der EU entsendet einen Richter an diesen Gerichtshof, die großen Länder benennen zudem einen „Generalanwalt“, so etwas wie einen Vorprüfer, der Stellung nimmt zu den komplizierten Rechtsfragen, mit denen sich das Gericht herumschlägt. Die Amtszeit beträgt jeweils sechs Jahre, eine Wiederernennung ist möglich. Und jedesmal, wenn ein neuer Staat in die EU aufgenommen wird, kommt auch ein neuer Richter mit seinem Stab am EuGH hinzu, kommen zusätzliche Dolmetscher und Übersetzer, meist noch eine Sprache, in die alle Urteile übertragen werden müssen. Die Bundesrepublik hat den Richter Thomas von Danwitz und die Generalanwältin Juliane Kokott nach Luxemburg entsandt. 

Die Nominierung der Richter und Generalanwälte ist gesetzlich geregelt. Danach sind als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind. Sie werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für sechs Jahre ernannt. 

Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gibt ein sogenannter Eignungsausschuß zuvor eine Stellungnahme zur Eignung der Bewerber ab. Doch auch die Nominierung der jeweiligen Landesrichter ist nicht frei von Kritik. Das zeigt ein Blick ins Nachbarland Österreich. Der Jurist und EU-Experte Viktor Kreuschitz wurde für die Funktionsperiode vom 1. September 2013 bis 31. August 2016 als österreichischer Richter am Gericht der EU von dem Hauptausschuß des Nationalrats mit den Stimmen der rot-schwarzen Koalitionsparteien nominiert. Dies führte zu heftiger Kritik seitens der Opposition. Diese begründete die Ablehnung des Nominierungsvorschlags der Regierung mit dem ihrer Meinung nach intransparenten Auswahlverfahren. Da sie keinerlei Informationen über die anderen Bewerbungen erhalten hätten, könnten sie auch nicht entscheiden, ob tatsächlich der am besten geeignete Kandidat ausgewählt worden sei. Der Grünen-Abgeordnete Bruno Rossmann äußerte darüber hinaus Zweifel daran, daß das Auswahlverfahren den Vorgaben des Vertrags von Lissabon, was notwendige Transparenz und Objektivität betrifft, entsprochen hat. 

Kritik gibt es auch an der Zusammensetzung des EuGH: Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider ist der Meinung, daß dieser wie eine Schlichtungsstelle im Völkerrecht besetzt sei, aber über die Befugnisse eines Verfassungsgerichts verfüge. Er sieht die Gefahr der Einflußnahme der Mitgliedsländer. Auch behindere die Zusammensetzung des Gerichts mit Richtern aus verschiedenen Mitgliedsländern die Funktionsweise des EuGH, argumentiert Albrecht. Fragt man jedoch die Juristen in Luxemburg, ob ihnen ihre Tätigkeit große Macht beschert, weisen sie lediglich auf die formelle Aufgabe des Gerichtshofs hin. Der EuGH sei dafür zuständig, das europäische Recht „letztverbindlich“ auszulegen. 

Karlsruhe muß um seine Reputation fürchten 

Gibt es keine weiterführenden Umbrüche innerhalb des EU-Gebildes, wird die Bedeutung des EuGH in Zukunft weiter steigen. Immer wieder wird zwischen dem Gerichtshof auf der einen und dem Bundesverfassungsgericht die Machtfrage gestellt werden. Doch „was bedeutet das Nebeneinander für die Bürger und den Schutz der Grundrechte? Wird das Bundesverfassungsgericht, das in der Bevölkerung enormes Ansehen genießt, in Zukunft an Einfluß verlieren? Muß sich Karlsruhe womöglich gar Luxemburg unterwerfen?“ fragte die Zeit. Und Juliane Kokott, deutsche Generalanwältin am EuGH, antwortete  entspannt: „Es bleibt genug Raum für die Arbeit beider Gerichte, und beide Gerichte haben Arbeit in Hülle und Fülle.“ 

Doch im vergangenen Jahr taten dann die Richter in Karlsruhe erstmals das, was Verfassungsgerichte der EU seit langem tun – im Rahmen der Debatte um den Ankauf von Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe, der im Herbst 2012 vom Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) im Zuge der Euro-Staatsschuldenkrise beschlossen worden war, legte Karlsruhe dem Gerichtshof Mitte Januar 2014 einige Fragen zur Vorabentscheidung vor. Kurz gesagt, Karlsruhe fragte in Luxemburg an, ob das EZB-Programm zum Kauf von Staatsanleihen mit europäischem Recht vereinbar ist. 

Das zögerliche Verhalten des Bundesverfassungsgerichts erklärt sich aus dem Potential für Überschneidungen und daraus resultierende Konflikte. Offen zugeben mag das aber niemand. Dennoch ist ein Spannungsverhältnis zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht angelegt, das wohl nur durch Kooperation gelöst werden kann. Einer Kooperation, bei der das EuGH letztverbindlich die Zügel in der Hand hält.





Europäischer Gerichtshof (EuGH)

Auf einem Hügel oberhalb der herausgeputzten Altstadt von Luxemburg thront der Europäische Gerichtshof  in zwei schlanken, goldverkleideten Türmen. Davor, in einem schwarzen Flachbau, liegen die großen Sitzungssäle, und darunter, darum herum, in den Hügel geschoben, befinden sich Büros, kleinere Gerichtssäle, Bibliotheken. Mehr als 2.000 Menschen arbeiten für den EuGH. Es herrscht eine schier babylonische Sprachenvielfalt auf dem Hügel; die 24 Amtssprachen der EU ergeben 622 denkbare Sprachkombinationen; eine Million Seiten müssen Jahr für Jahr übersetzt werden. Dort sitzen Richter aus 28 Staaten Europas zusammen, die 28 unterschiedliche Biographien haben und aus extrem unterschiedlichen Rechtskulturen stammen. Sie werden für sechs Jahre von den natioanlen Regierungen ernannt, aber mit der Möglichkeit der erneuten Ernennung. Der Gerichtshof ist die höchste juristische Instanz der Europäischen Union. Parallel zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952 ins Leben gerufen, hat er das letzte Wort bei der Auslegung der EU-Verträge.