© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Er hebt gern den Zeigefinger
Mit seiner Arbeit will er Rührung vermitteln: Der Publizist Roger Willemsen wird sechzig
Claas Nordau

Dies ist die Geschichte einer Rührung.“ So beginnt Roger Willemsen ein Porträt der Schauspielerin Jean Seberg. Ein programmatischer Satz, weil er eines der wichtigsten Ziele seiner Arbeit ausdrückt: Rührung vermitteln in einer Welt, die „nicht aus Gefühl, sondern Gefühle“ besteht und zu schnell geworden ist, um für Rührung Zeit zu haben.

Er ist Publizist und von einer Ehrlichkeit, die überrascht, weil er so harmlos aussieht, als würde er Hindernissen am liebsten höflich aus dem Weg gehen. Von britischer Eleganz, was den Kleidergeschmack angeht (er hat einige Jahre in London gelebt), und dazu Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Uni. Das ist die eine Seite. Die andere: er ist bekennender Kiffer, Bordelliebhaber und beneidenswerterweise ein Homme de lettres, der für die literarische Freiheit eine Fernsehkarriere weitgehend aufgegeben hat. Dabei würde er in der Boulevardpresse problemlos bella figura machen, wäre in einer Talkshow gut aufgehoben oder könnte jederzeit als Paartherapeut durchgehen. Aber: Er kann es sich leisten, nicht zu wollen.

Denn er hat einige Talente. In der Talksendung „Thadeusz“ charakterisierte ihn der namengebende Moderator als jemand, der „nicht altert“. Für Lutz Hachmeister, Filmemacher und ehemaliger Leiter des Adolf-Grimme-Instituts, ist er einer der wenigen Fernsehmoderatoren, die in grammatikalisch korrekten Satzperioden sprechen können. Wohlgemerkt: Satzperioden, nicht Sätze. Einmal in Fahrt, zelebriert Willemsen diese bewundernswerte Kunst der verbalen Rundumäußerung wie eine musikalische Messe.

Guter Zuhörer und exzellenter Beobachter

Dabei ist er ein ebenso guter Zuhörer und nach mehr als zweitausend Interviews jemand, der mit der Mäeutik eines Sokrates konkurrieren könnte und wohl jeden Trick kennt, um herauszubekommen, wie sein Gegenüber tickt. Schmachtende Blicke inklusive. Ein paar Fragen auf einer Pressekonferenz – das kann jeder. Willemsen kann mehr. Madonna befand bei einem Interview mit ihm, ständig das Gefühl zu haben, mit ihrem Psychiater zu reden.

Und tatsächlich – konzentriert man sich via Youtube auf seine Körpersprache und Gestik, läßt sich das gut nachvollziehen: Man wird das Gefühl nicht los, daß da jemand sehr bemüht ist, einem anderen auf die Pelle zu rücken. Aber was Madonna an ihren Psychiater denken ließ, ist Indiz dafür, daß Willemsen etwas in ihr – Rührung? – geweckt hat, das sie ansonsten gut unter Verschluß hat. Mission accomplished. Die Frankfurter Rundschau schrieb über solche Methodik einmal von „parfümiertem Parlando“, Spiegel Online gar vom „Knecht der Prominenz“ – Willemsen kann so viel Neid kaltlassen. Ein Gespräch läßt sich nun einmal nicht mit 90-Sekunden-Aufsagern bestreiten.

Er versteht sich als Menschenrechtler, der über das berichtet, was andere Kollegen respektive ganze Redaktionen und Filmproduktionen mangels Sensationswert einfach unter den Tisch fallen lassen. 

Daß er ein exzellenter Beobachter ist, beweisen auch viele der Essays über Menschen, mit denen er zu tun hatte („Gute Tage“, 2004). Sie sind Resultat von Beobachtung und akribischer Vorbereitung. Für ein einstündiges Interview mit der britischen Ex-Premierministerin Margaret Thatcher mußte er Tausende Seiten Sekundärliteratur lesen. Für ein Gespräch mit der Orang-Utan-Forscherin Biruté Galdikas reiste er in deren Habitat (eines der Lieblingsworte Willemsens) nach Borneo und brachte – als Eintrittskarte – ein durchfallkrankes Orang-Utan-Baby mit. Die ausführliche Schilderung, welche Farbe flüssiger Orang-Kot hat und welche Wirkung auf die menschliche, Willemsens Haut, ließ er sich natürlich nicht nehmen. Die fertige Reportage läßt nicht auf einen „Knecht der Prominenz“, sondern auf einen Zoologen und Primatenforscher schließen.

Forschung trifft das Selbstverständnis von Willemsens Arbeit durchaus. „Fernsehen ist Völkerkunde“ und Forschen heißt bei ihm „Jagen“, Beobachten „Sezieren“. Dafür wandelt er sich dem Gegenstand seines Interesses gern an. Als er sich auf ein Gespräch mit Jassir Arafat, palästinensischer Terrorist und Friedensnobelpreisträger, vorbereitet, wird er Teil einer politischen Mission. Spricht er mit den Schauspielern Michel Piccoli oder John Malkovich, Cineast und Filmhistoriker. Ein Besuch bei Hoki Tokuda, der letzten Ehefrau Henry Millers, in Tokio, gerinnt zu einer kompakten Bestandsaufnahme moderner japanischer Kultur. Die Essays, die er nach solchen Begegnungen geschrieben hat, gehören zu seinen besten Arbeiten.

Was er über die Medienbranche recherchiert, führt zu Schlußfolgerungen, um die ihn mancher Medienwissenschaftler beneiden dürfte. Kostprobe: „Die Öffentlichkeit liebt das Echte. Aber sie liebt es nur kurz. Danach kennt sie die Wirkung und hält sie für Effekt.“ Mittlerweile reicht es ihm, nur noch selten auf dem Bildschirm zu erscheinen. Und mittlerweile ist er es, der interviewt wird.

Die Rolle als Humanist ist Teil seiner Sozialisation

Bei Willemsen denkt man an literarische Zirkel – er war in seiner Anfangszeit Gast beim „Literarischen Quartett“, wo ihn Marcel Reich-Ranicki wie seinen Kronprinz vorstellte –, nicht an die „Ausscheidungsprodukte einer Oberflächenindustrie“, deren ansteckender Wirkung er sich wohl bewußt ist, und gerade deshalb den Ausstieg gewagt und geschafft hat. Anders als Kollege Harald Schmidt „interpretierte ich meine öffentliche Rolle besserwisserisch, das heißt gesellschaftskritisch, während Schmidt immer neue Territorien des Ketzerischen, Blasphemischen erschloß“. Was ihn weder stört noch daran gehindert hat, zusammen mit Dieter Hildebrandt auch auf der Kabarettbühne zu stehen.

Den Zeigefinger hebt er gern; er weiß zwar, daß man ihm den moralinsauren Oberlehrer ohnehin nicht abnimmt, aber die Rolle als Humanist liegt ihm, sie ist Teil seiner Sozialisation: „Ich wurde mit Hilfe von Literatur, Kunst, Philosophie und aller Konsequenz, die das fordert, zum klassischen Humanismus erzogen. In dieser Kontinuität hätte es geradezu etwas Entfremdetes, wenn mich Humanität nur in Texten interessierte“, sagte er in einem taz-Interview einmal. Also engagiert er sich aktiv und literarisch in politischen Themenfeldern wie Afghanistan („Afghanische Reise“, 2006, basiert auf einer Reise kurz nach Ende des Talibanregimes), Guantánamo („Hier spricht Guantánamo“, 2006, Interviews mit ehemaligen Häftlingen) und zuletzt eine Betrachtung zu Sinn und Unsinn des bundesrepublikanischen Parlamentarismus („Das Hohe Haus“, 2014). Was darauf schließen läßt, daß er meint, was er sagt. 

Stilistisch geht er als Literat ganz eigenwillige Wege, die nicht immer einer erzählerischen Struktur folgen, sondern das Objekt seiner Beschreibung aus einer Vielzahl verschiedener Stücke unter-schiedlicher Länge wie ein Puzzle zusam-mensetzt und so dessen Sinn erschließt. Journalistische Wahrheit geht ihm vor einer Dramaturgie, an die sich das Leben ohnehin nicht hält. „Der Gram bekommt mir besser als der Ärger“, zitiert er in der „Deutschlandreise“(2002) einen Bauern seiner Geburtsstadt und bekennt, daß er in solchen Sätzen seine „Heimat“ findet. 

Roger (spricht sich so, wie man es schreibt und ist mit dem Namen Rüdiger verwandt) Willemsen wurde am 15. August 1955 in Bonn geboren und war in der Schule eher „faul und desinteressiert“, Ehrenrunde inklusive. Trotzdem hat er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte (Vater Ernst war Kunsthistoriker und Restaurator) studiert und mit einer Arbeit über Robert Musil promoviert. Die Fernsehkarriere begann 1991 bei der Interviewreihe „0137“ vom Bezahlsender Premiere, die er zusammen mit Sandra Maischberger moderierte. Beide waren privat auch einmal ein Paar, aber das ist lange her. 

Kein Handy, kein Fernseher –  das ist Willemsens Veto gegenüber einer immer hektischer werdenden Kommunikationsgesellschaft. Plausibel, wenn man am liebsten mit einem Notizbuch reist. So bleibt einiges vom Lästigen der Welt auf Distanz. Ein Status, den man sich erkämpfen – und erhalten muß. 

Gottgegeben ist schließlich nichts auf der Welt. Rührung nicht, Zivilcourage nicht, ein 60. Geburtstag und die nüchterne Einsicht zum eigenen Altern, bei dem man „klüger, aber dümmer“ wird, auch nicht.

Roger Willemsen: Ein Jahr im Parlament. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, gebunden, 400 Seiten, 19,99 Euro

Termine: Am 19. September in Meißen und einen Tag später in Bad Elster hält Roger Willemsen zwei szenische Lesungen aus seinem Buch „Das Hohe Haus“ .

 www.roger-willemsen.de