© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Sie wollten das Diabolische zum Ausdruck bringen
Blick in den Abgrund des 20. Jahrhunderts: Was der Schriftsteller Thomas Mann mit seinem Roman „Doktor Faustus“ vergeblich erstrebte, war dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler einige Jahre zuvor mit seiner Beethoven-Interpretation gelungen
Thorsten Hinz

Am 12. August 1955 starb achtzigjährig Thomas Mann im Zürcher Kantonsspital. 1944 war er im Exil amerikanischer Staatsbürger geworden. Seit 1953 lebte er wieder in Europa, in der Schweiz. Eine Rückkehr nach Deutschland war für ihn nicht in Frage gekommen. In einem offenen Brief hatte er 1945 die Aufforderung des Schriftstellers Walter von Molo zurückgewiesen. Er fürchte die Trümmer in Deutschland, schrieb er, die materiellen und die geistigen, und glaube, daß die Verständigung mit denen, „die Ihr mitgetanzt und Herrn Urian aufgewartet habt, immerhin schwierig wäre“.

Das Wort „Herr Urian“ für den verblichenen Führer war nicht zufällig gewählt. Zum einen bezeichnet es einen verachtungswürdigen Menschen. Außerdem hatte der Volksmund im 16. Jahrhundert den Namen dem Teufel verliehen, auch in Goethes „Faust“ wird er so genannt. Das mußte Thomas Mann elektrisieren, der zu der Zeit am Roman „Doktor Faustus“ arbeitete. 1947 sollte er erscheinen.

Es ist der Bericht über das Leben des genialen Komponisten Adrian Leverkühn, verfaßt zwischen 1943 und 1945 von seinem Freund Serenus Zeitblom. Dabei ergibt sich eine innere Synchronität zwischen der Biographie Leverkühns, der von 1885 bis 1940 lebte, und der deutschen Kultur, die in der Sicht des Schreibers geradewegs in die NS-Barbarei eingemündet habe. Um seiner Kunst willen hat Leverkühn, der „Repräsentant der deutschen Seele“, sich dunklen Mächten verschrieben, er verfällt in Wahnsinn und wird am Ende – wie Deutschland – vom Teufel geholt.

Die Umerziehungspläne zu eigen gemacht

Germanistik und Literaturkritik sind fast einhellig der Meinung, daß es sich um einen Jahrhundertroman handelt. Die „Buddenbrooks“ mögen populärer, der „Zauberberg“ in seiner Aussage universeller sein, der „Faustus“ aber wurde zu einem Referenzwerk für das literarische und geistige Nachkriegsdeutschland. Dafür gibt es gute Gründe: Die hohe Sprachkunst, das enorme Bildungsgut, die Fülle der kulturellen und geschichtlichen Anspielungen, die bis zu Luther und Dürer zurückreichen, die meisterlich gehandhabte Ironie, die musikalischen Bezüge.

Doch es gibt auch schlechte Gründe. Der Autor hat eine simple Geschichts- und Kulturteleologie konstruiert, die Tiefe vortäuscht und dem mittelmäßigen Leser schmeichelt und ihn verführt. Günter Kunert spottete in einem 1965 veröffentlichten Aufsatz über Manns „hohe Märchenfiguren“, in denen der Leser sich nur zu gern wiedererkenne: „Zum Untergang verurteilt, durch unnennbare Mächte, aber von faustischem Wesen!“ Die „Schrecknisse des Jahrhunderts“ erschienen, „wenn überhaupt, geläutert und historisiert“, sie verbreiteten „Kamingeflacker“ und „gemütliche Schummrigkeit“.

Doch erst das holzschnittartige Geschichtsbild und die klischeehafte Kollektivpsychologie komplettieren die romanhafte Gemütlichkeit. Die historischen Ein- und Ansichten im „Faustus“ gehen über die Thesen aus den unzähligen Nachkriegstraktaten über deutsche Katastrophen, Daseinsverfehlungen, Verhängnisse und Irrwege – die angeblich bereits bei Luther oder den Stauferkaisern begonnen haben – nicht hinaus und entsprachen exakt den Umerziehungsplänen der Alliierten, deren Sache sich Mann zu eigen gemacht hatte.

Hans Egon Holthusen bescheinigte dem Roman einen eskapistischen „Über-Essayismus“ und eine „Welt ohne Transzendenz“. Er bliebe ganz in „der relativen, vom Zeitgeist diktierten Wahrheit-für-den-Augenblick“ gefangen. Dieser Augenblick währt mittlerweile siebzig Jahre, in denen das „verfehlte Böse“ (Karl Heinz Bohrer) des Romans, nämlich Thomas Manns angestrengter, aber mißlungener Versuch, das politisch-konkrete Böse das Nationalsozialismus in ein metaphysisches, ein absolut Böses zu transformieren, unreflektiert bleibt und dadurch selber eine böse Wirkung entfaltet.

Dämonisierung der deutschen Geschichte

Der Teufel, der Leverkühn erscheint, ist ein konventioneller Wiedergänger aus dem Volksbuch „Historia von Doktor Johann Fausten“, dem die Dimension des Dämonischen abgeht. Der Teufelspakt ist nichts weiter ist als die Besiegelung des Eigensinns eines avantgardistischen Künstlers. Die Behauptung, der Teufel habe bei Leverkühns Werk die Hand im Spiel gehabt, ist Budenzauber, der seine Entsprechung in der Dämonisierung der deutschen Geschichte findet. Am Ende plant Leverkühn die Rücknahme von Beethovens 9. Sinfonie und damit von allem, „um was die Menschheit gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben“.

In Wahrheit betet sein Werk „Dr. Fausti Weheklag“ den Teufel an – einen Teufel aus Pappmaché. Manns Beschreibung der Musik ist zwar eindrucksvoll, jedoch nur ein sekundäres, ein Verfahren zweiter Ordnung und kein ästhetisches Äquivalent zum erklärten Anspruch, das Diabolische aufscheinen zu lassen. Sein Versuch, dem Wahnsinn des 20. Jahrhunderts mit den künstlerischen Mitteln des 19. beizukommen, ist gleich doppelt gescheitert.

Fünf Jahre vor dem Erscheinen des „Faustus“ war ausgerechnet einem im nationalsozialistischen Deutschland verbliebenen Künstler jener vollendete Zeitausdruck, den Mann vergeblich erstrebte, bereits gelungen, und zwar in Auseinandersetzung mit Beethovens 9. Sinfonie: dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Leiter der Berliner Philharmoniker und der weltweit Größte seines Fachs. Thomas Mann hatte ihn im Absagebrief an Walter von Molo direkt attackiert: „Ein Kapellmeister, der, von Hitler entsandt, in Zürich, Paris oder Budapest Beethoven dirigierte, machte sich einer obszönen Lüge schuldig – unter dem Vorwande, er sei ein Musiker und mache Musik, das sei alles. Lüge aber vor allem schon war diese Musik auch zu Hause.“ Mann blieb seiner fatalen Roman-Logik auch im wirklichen Leben treu.

Die meisten Publikationen zum „Fall Furtwängler“ haben eines gemeinsam: Sie gehen nicht auf Furtwänglers Kunst, auf seine Art des Musizierens ein und unterschlagen seine künstlerische Auseinandersetzung mit den Zeitumständen. Zwei überlieferte Konzertmitschnitte von Beethovens 9. Sinfonie vom März und April 1942, die den Versöhnungs- und Verbrüderungsjubel ins Gegenteil verkehren, sind besonders bemerkenswert. Sogar und erst recht bei Schillers „Ode an die Freude“ dominieren Panik und helle Angst, unterbrochen von kurzen Phasen des Trostes und der Aussicht auf Gnade. Solostimmen und Chor klingen unter dem Stakkato der Pauken, Becken, Triangeln und Trommeln wie von Höllenhunden gehetzt. Wenn der dramatische Sopran in der technisch passablen März-Aufnahme bei der Zeile: „Und der Cherub steht vor Gott!“ sich zu äußerster Expressivität steigert, vernimmt man statt des Ausdrucks des Entzückens einen Angst- und Hilfeschrei, ein De profundis, ganz als hätte die Sängerin an Stelle des himmlischen Wächters den Leibhaftigen erblickt, worauf der Chor mit einem entfesselten Inferno antwortet, das den Hörer in die Welt des Hieronymus Bosch versetzt. 

Das Sterben an den Fronten ist darin so gegenwärtig wie die Judenverfolgung und das Katyn-Massaker, wie der Gulag und die KZs und das kommende Grauen von Dresden und Hiroshima. Furtwänglers Interpretation transzendiert eine existentielle Not und stutzt Manns germanozentrierte Metaphysik auf die politische Dogmatik eines beleidigten Ästheten zurück.

Gemütlichkeit kommt bei Furtwängler nicht auf

Der Publizist Michael Klonovsky schreibt: „Furtwänglers Aufnahmen sind Zeitdokumente höchsten künstlerischen Karats. Irrsinnige Tempi und Fortissimi überrollen den Hörer, schmerzlich zerdehnte Momente peinigen ihn. Bomben und Granaten schlagen ein, die Posaunen des Gerichts ertönen, ohrenbetäubend pfeifen die Piccoloflöten, die Streicher flehen um Erbarmen, Choreinsätze klingen wie Artilleriesalven. Gewiß, das ist manchmal nicht mehr Beethoven – und doch mehr Beethoven denn je. Es ist eine Orgie des Schmerzes, der Klage und der Anklage. Wenn sich im Finalsatz aus dem Grummeln der Kontrabässe und dem Bitten der Violinen im Forte der Bläser das so unendlich abgegriffene D-Dur-Thema erhebt, ist es, als werde erstmals auf Erden die Hoffnung geboren.“

Gemütlichkeit kommt da natürlich nicht auf, und politisch korrekte Lehren lassen sich daraus erst recht nicht ziehen. Der Blick in den Abgrund, den Thomas Mann vortäuscht, war bei Furtwängler zum Ereignis geworden. Die Annahme, dieser Abgrund sei im Geiste des „Faustus“-Romans – durch Vergangenheitsbewältigung – zu ermessen, ist das wirkliche Verhängnis der Gegenwart. Es betrifft nicht nur Deutschland.

Fto: Thomas Mann 1943 in seinem Exil in den USA: Sein Künstler- und Gesellschaftsroman „Doktor Faustus“ erzählt das Leben des genialen Komponisten Adrian Leverkühn, der sich dunklen Mächten verschreibt, in Wahnsinn verfällt und am Ende – wie NS-Deutschland – vom Teufel geholt wird