© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

„Für Tim würde ich alles wieder machen“
Adoption: Für viele kinderlose Paare erfüllt sich so der lang ersehnte Traum von einer vollständigen Familie / Doch das Verfahren enthält hohe Hürden
Elena Hickman

Es tutet zweimal, der Hörer wird abgehoben und ein kleines Stimmchen fragt: „Hallo?“ „Wer ist denn da?“ „Hier ist der Tim“, kommt die selbstsichere Antwort des Kleinen. Auf die Frage, ob seine Mutter da sei, schallt es aus dem Hörer „MAMA! TELEFON!“ Für den achtjährigen Tim ist klar, wer seine „Mama“ ist – auch wenn es nicht die Frau ist, die ihn auf die Welt gebracht hat. Nicole und Marc durften Tim mit zwei Jahren adoptieren. „Der erste Moment, als ich ihn gesehen hab, da konnte ich es noch gar nicht glauben“, erzählt Nicole, „das kann ich kaum beschreiben.“ 

Ein Kind zu adoptieren bedeutet für viele kinderlose Paare die Erfüllung eines großen Traums – die vollständige Familie mit Vater, Mutter und Kind. Die Gründe, warum sich Eltern dazu entschließen, ihr Kind abzugeben, können sehr vielseitig sein. Häufig stammen die freigegebenen Kinder jedoch aus problematischen Familienverhältnissen.

 In Deutschland dürfen Ehepaare ein Kind nur gemeinsam adoptieren. Dafür muß ein Ehepartner mindestens 25, der andere mindestens 21 Jahre alt sein. Ein Höchstalter ist gesetzlich nicht festgelegt, allerdings haben es ältere Bewerber schwerer, ein Kind zu adoptieren, da der Altersunterschied zwischen Kindern und Eltern nicht über 40 Jahren liegen sollte. Weil derzeit fast alle Anträge mit solchen Bewerbern abgelehnt werden, fordern Kritiker, die Altersgrenze für adoptionswillige Paare deutlich anzuheben. Auch für den Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité, Michael Tsokos, geht die jetzige Regelung an der Realität akademisch ausgebildeter Menschen vorbei. Rechtsanwälte oder Wissenschaftler würden heute oft erst in ihren Dreißigerjahren ins Berufsleben einsteigen, sagt Tsokos in seinem Buch „Deutschland mißhandelt seine Kinder“. Und nur zehn Jahre später, beruflich erfolgreich und wohlhabend, seien sie als Adoptiveltern angeblich schon wieder zu alt. „Das deutsche Adoptionsrecht sollte den heutigen Erfordernissen und Gegebenheiten angepaßt werden“, fordert der Experte. So könnten Kinder in Adoptivfamilien die Chance auf einen echten Neubeginn bekommen, anstatt bei Pflegeeltern oder in Heimen zu leben.

Auf ein Kind kommen neun Bewerberpaare

Entgegen der weit verbreiteten Meinung dürfen auch Singles Kinder adoptieren, allerdings sind dabei eine Menge Durchhaltevermögen und Selbstvertrauen gefragt. Denn leibliche Eltern wünschen sich als Adoptiveltern häufig ein Elternpaar für ihre Kinder.

Die meisten Adoptionen fallen in Deutschland unter die sogenannte Stiefkindadoption (2.232 im Jahr 2013). Das heißt, ein Ehe- oder Lebenspartner adoptiert das Kind des anderen, beispielsweise aus einer früheren Ehe.

Personen, die ein Kind aufnehmen möchten und verheiratet sind, dürfen nur gemeinsam mit dem Ehepartner adoptieren. Eine eingetragene Lebenspartnerschaft gilt laut deutschem Recht nicht als Ehe, weshalb homosexuelle Paare nur einzeln Kinder adoptieren können. Der Partner muß dann versuchen, das Kind als Stiefkind zu adoptieren.

Viele Paare, die gerne ein Kind adoptieren möchten, gehen nach dem ersten Gespräch im Jugendamt frustriert und enttäuscht nach Hause. Denn die Chancen für eine Adoption stehen schlecht – auf ein Kind kommen in Deutschland derzeit rund neun Bewerberpaare. Wartezeiten von drei bis fünf Jahren sind deshalb nicht selten. Das ist für viele nicht verständlich. Sie sehen die vollen Heime und fragen sich, warum Kinder nicht von dort adoptiert werden können. Jedoch haben die meisten dieser Kinder immer noch (mehr oder weniger) Kontakt zu ihren leiblichen Eltern und sollen im Idealfall irgendwann wieder zu Hause wohnen.

Häufig scheitert eine Adoption auch an rechtlichen Hindernissen, wenn die leiblichen Eltern keine Zustimmung zur Adoption erteilen. Theoretisch kann ein Gericht die Einwilligung der leiblichen Eltern ersetzen, in der Praxis kommt das jedoch nur sehr selten vor. Für Adoptionen innerhalb Deutschlands sind die Vermittlungsstellen der Jugendämter zuständig, aber auch freie Träger wie die Caritas oder das Diakonische Werk. Um Kinder aus dem Ausland zu adoptieren, sind staatlich anerkannte Auslandsvermittlungsstellen der passende Ansprechpartner.

In Deutschland ist eine Inlandsadoption als Aufgabe der Jugendhilfe gebührenfrei. Jedoch fallen Kosten für einen Notar und verschiedene Beglaubigungen an, die sich auf ein paar hundert Euro summieren können. Wer ein Kind aus dem Ausland adoptieren möchte, muß sich auf deutlich höhere Kosten gefaßt machen, je nach Bundesland werden von den zentralen Adoptionsstellen der Jugendämter zwischen 1.000 und 2.000 Euro veranschlagt. Allerdings ist das noch nichts im Vergleich zu den Kosten bei einer eigenständigen, staatlich anerkannten Auslandsvermittlungsstelle, die häufig auf bestimmte Länder spezialisiert ist. Hier müssen zwischen 10.000 und 30.000 Euro gezahlt werden.

Aber nicht nur die hohen Kosten schrecken Paare zurück, weiß die Geschäftsführerin von Eltern für Afrika, Judith Marz. Internationale Adoption sei in den letzten Jahren sehr rückläufig, sagt Marz gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Nicht nur von der Seite der Herkunftsländer würde es häufig nicht mehr gewünscht. „Immer weniger Paare sind bereit ein Kind zu adoptieren“, so Marz, „weil ihnen die Risiken zu hoch sind – wie zum Beispiel Krankheiten oder andere Beeinträchtigungen durch schwierige Startbedingungen wie Mangelernährung, frühe Bindungsverluste, emotionale Vernachlässigung usw.“

2013 wurden insgesamt 3.793 Kinder adoptiert, größtenteils kamen die Kinder dabei aus Deutschland (3.132). Nicole hat bei Tims Adoption versucht, sich nicht wegen möglicher Krankheiten verrückt zu machen. Natürlich wisse man nicht was kommt, ob das Kind krank sei, sagt sie, „aber das weiß man bei einem leiblichen Kind doch auch nicht“. 

Überall müssen zukünftige Adoptiveltern ein langwieriges Bewerbungsverfahren durchlaufen. Zunächst sind formale Bedingungen zu erfüllen, beispielsweise sollten sie seit mindestens zwei Jahren verheiratet sein und ein gesichertes Einkommen haben. Es müssen Lebensläufe und polizeiliche Führungszeugnisse vorgelegt werden, ebenso wie ärztliche Bescheinigungen. In verschiedenen Gesprächen ermitteln die Mitarbeiter dann, ob die Partnerschaft der künftigen Adoptiveltern stabil ist, welche Vorstellungen diese von Erziehung haben und aus welchem Grund sie überhaupt ein Kind adoptieren möchten.

Gerade über diesen letzten Punkt sprechen die Mitarbeiter der Adoptionsstelle ausführlich mit den Bewerbern, denn „alle Motive, die das Kind als Zweck für etwas anderes sehen“, sind falsch, sagt die Fachreferentin vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD), Carmen Thiele, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Nur um dem Partner eine Freude zu machen, sollte niemand ein Kind adoptieren. 

Endlich kommt der lang ersehnte Anruf

 Wenn alle Bescheinigungen eingereicht und alle Gespräche geführt wurden, steht einer Adoption nichts mehr im Weg. Doch dann beginnt das nervenaufreibende Warten. Denn keine Vermittlungsstelle geht streng nach Warteliste vor. Für jedes Kind wird das passende Elternpaar gesucht – nicht das passende Kind für die Eltern. „Adoption ist kein Supermarkt für kinderlose Menschen“, unterstreicht Thiele. Adoption wird vom Kind her gedacht. Kinder sollen wieder eine Familie bekommen. Es geht nicht darum, kinderlosen Menschen ein Kind zu geben. Wartezeiten können deshalb stark variieren. Wenn beispielsweise ein Paar bereit ist, ein Kind auch mit Behinderung aufzunehmen, kann die Adoption sehr viel schneller ablaufen.

Kommt dann endlich der lang ersehnte Anruf, geht es auf einmal ganz schnell. Oft kann das Kind schon nach wenigen Tagen mit nach Hause genommen werden, und das Abenteuer zu dritt beginnt. Allerdings können die Paare das Kind nicht sofort adoptieren. Bei Inlands-adoptionen ist bis zum ersten Jahr Zeit, um sich gegenseitig kennenzulernen – die sogenannte Anbahnungsphase. „In dieser Zeit muß der Funke überspringen“, sagt Thiele. Bei jüngeren Kindern dauert die Phase nicht so lange, bei älteren Kindern kann es auch länger dauern. Im Falle einer Auslandsadoption ist diese Kennenlernzeit etwas kürzer. Die zukünftigen Adoptiveltern können das Kind schon nach einer Woche bis sechs Monaten mit nach Hause nehmen. Obwohl das Kind in der Anbahnungsphase in seinem neuen Zuhause wohnt, haben die leiblichen Eltern noch acht Wochen Zeit, um ihre Meinung zu ändern. Erst nach danach dürfen die Paare das Kind adoptieren.

Besonders gegen Ende der acht Wochen werden Adoptiveltern aufgeregt, weil sie sich häufig ein Leben ohne „ihr Kind“ nicht mehr vorstellen können. „Ich war unglaublich nervös und hab gedacht: Was, wenn die Mutter ihre Meinung doch noch ändert?“ gesteht Nicole.

 Es gibt drei Arten der Adoption: Die Inkognito-, die halboffene und die offene Adoption. Inkognito-Adoptionen, bei denen die leiblichen Eltern anonym bleiben, gibt es in Deutschland kaum noch. Ausnahmen sind lediglich Kinder, die anonym zur Welt gebracht oder in eine Babyklappe gelegt werden.

Die meisten nichtfamiliären Adoptionen in Deutschland sind „halboffen“. Das bedeutet, ein Kontakt zwischen leiblichen und Adoptiveltern findet nur indirekt über das Jugendamt statt. Die leiblichen Eltern können beim Jugendamt nach dem Wohl ihres Kindes fragen und dort auch Geschenke oder Bilder abgeben. Allerdings bleibt es die Entscheidung der Adoptiveltern, ob Informationen und Gegenstände tatsächlich ausgetauscht werden. Wenn ein Adoptivkind 16 Jahre alt wird, darf es beim Jugendamt seine Abstammungsurkunde einsehen und über die Behörde einen Kontakt zu den leiblichen Eltern herstellen. 

Viele Jugendämter ermutigen die Adoptiveltern inzwischen dazu, die Herkunft des Kindes nicht zu verleugnen, sondern offen damit umzugehen. In Internetforen sticht diese Meinung bei Adoptierten auch klar heraus: Von Anfang an offen mit der Adoption umzugehen, ist besser. Dann wird es selbstverständlicher für die Familie und bleibt kein unangenehmes Thema. Ein Kind muß seine Herkunft kennen, um eine eigene Identität zu entwickeln. Allerdings geht eine Adoption auch dann nicht immer gut aus. Die Angst, nicht geliebt zu werden, und die unbewußte Frage „Werde ich noch einmal weggegeben?“ bleibt für viele ein Leben lang bestehen. Gerade auch in der Pubertät lehnen viele Adoptivkinder ihre neue Familie ab, wobei die Versuchung bei Eltern und Kindern natürlich groß ist, für jedes Problem die Adoption verantwortlich zu machen. Als dritte Möglichkeit gibt es noch die offene Adoption, bei der leibliche und Adoptiveltern in persönlichem Kontakt stehen. Diese Form ist allerdings eher selten.

 Nicht selten können zwischen der Entscheidung, ein Kind zu adoptieren, und der tatsächlichen Adoption Jahre vergehen. Der Prozeß ist nervenaufreibend, anstrengend und beängstigend. Aber die meisten Adoptiveltern würden Nicole wahrscheinlich zustimmen: „Ich würde es jederzeit wieder tun. Für Tim würde ich es alles noch einmal machen.“




Der „Madonna-Effekt“

Seitdem die Pop-Sängerin Madonna 2006 den damals einjährigen David aus dem afrikanischen Malawi adoptierte, kursiert in den Medien der Begriff „Madonna-Effekt“:

Immer mehr Eltern aus armen (auch europäischen) Ländern geben ihre Kinder in Heime und glauben, ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, wenn sie von dort in eine reiche Familie aus dem Westen adoptiert werden. Diese Erkenntnis veröffentlichte der englische Kinderpsychologe Kevin Browne. In einer Studie untersuchte er 25 Länder und fand heraus, daß 96 Prozent der Kinder in den Heimen keine Vollwaisen seien, wie auch Madonnas Adoptivsohn.

Allerdings war Madonna nicht die erste Prominente, die ein Kind adoptiert hat. Schon 2004 adoptierten Gerhard und Doris Schröder ein dreijähriges russisches Mädchen, zwei Jahre später holte sich das Ehepaar einen einjährigen Jungen aus Rußland. In Deutschland hätte Gerhard Schröder in seinem Alter wahrscheinlich kein so kleines Kind adoptieren dürfen.