© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Die werden uns nicht los
Flandern: Ein Polderdorf widersetzt sich mit allen Mitteln dem Abriß
Mina Buts

Die Kühltürme des Atomkraftwerks sind schon von weitem zu sehen, da irgendwo liegt Doel, das einzige noch verbliebene Polderdorf am Antwerpener Scheldeufer. Kilometerweit führt der geschlängelte Weg mal nach links und mal nach rechts, durch Baustellen, an Betonwänden vorbei, nur selten zeigt ein Schild Richtung Doel. Pferde und Kühe grasen friedlich zwischen Baukränen und Kartoffeläckern, die Kühltürme tauchen wieder auf, da endlich ist Doel, das einsamste Dorf in Flandern.

Für die Erweiterung des Hafens soll Doel dem Erdboden gleichgemacht werden, 80 Prozent aller Häuser sind bereits enteignet, noch mehr stehen leer, die meisten sind durch Vandalismus unbewohnbar, unrenovierbar und schon dem Untergang geweiht.

Aber an diesem Wochenende ist Doel bevölkert, mehr als 10.000 Besucher kommen zur „41. Scheldeweihe und Doelfest“. Mit Pferdewagen, die von Belgischen Kaltblütern gezogen werden, gelangen die Besucher ins Dorf, ein Flohmarkt, eine Schmiede und ein Handwerkermarkt laden zum Staunen und Stöbern ein, überall sind Musikanten unterwegs. 

In der Doeler Kirche wird die Messe gelesen, danach ziehen die Musikgruppen und Besucher zum Flußufer, wo sie mit kleinen geschmückten Booten auf die Schelde ausfahren und diese einmal mehr geweiht wird. Mit einem großen Fährschiff ist die kostenlose Überfahrt nach Lillo, einem bereits geschleiften, aber teilweise wiederaufgebauten Polderdorf am anderen Scheldeufer möglich. 

Überall im Dorf gibt es Infostände und Freßbuden. Unvorstellbar, daß in Doel sonst vollkommene Stille herrscht. Die ehemals 1.400 Bewohner haben sich auf  24 dezimiert, vom ehemaligen Dorf-leben und den Geschäften sind einzig drei Cafés übriggeblieben, hauptsächlich um den „Gaffertourismus“, der sich überwiegend am Wochenende und überwiegend aus Holland einstellt, zu befriedigen.

Wegen des heutigen Trubels fällt erst einmal gar nicht auf, wie es um Doel bestellt ist. Große Villen, früher als Hotels genutzt, stehen neben Gehöften, im Dorf selbst überwiegen Reihenhäuser aus rotem Backstein. Mit dem „Hooghuis“ gibt es sogar ein denkmalgeschütztes Haus, welches einst dem Maler Peter Paul Rubens gehörte. 

Eines ist allen Häusern gemeinsam: Sie stehen – von fünf Ausnahmen abgesehen – leer. Bei etlichen sind die Fenstern vernagelt, bei vielen gar zerstört, ein Großteil der Häuser ist mit Graffiti besprüht, viele sind aufgebrochen und geplündert. Verwilderte Gärten und Hecken überwuchern die Häuser, nur der Friedhof wirkt gepflegt. 

Asylsuchende sollen Abwanderung beschleunigen

Die Diskussion um den Fortbestand von Doel dauert seit zwanzig Jahren an. Damals begannen die Bauarbeiten für das Deurganckdock am linken Schelde-ufer. Wenn die Reederei MCS im kommenden Jahr dorthin umzieht, rückt die Realisierung des nächsten Docks, des Saeftinghedocks, näher. Hierfür müssen allerdings Doel, kleinere umliegende Gehöfte  und 1.500 Hektar Polderlandschaft weichen. Bereits Ende der 1990er Jahre wurden die ersten Häuser enteignet und abgerissen, dann das Bauvorhaben für kurze Zeit auf Eis gelegt. Als es Jahre später wieder aufgenommen wurde, waren viele Hauseigentümer verunsichert. Um deren Bereitschaft zur Enteignung zu erhöhen, wurden von der Stadt Antwerpen in die bereits leerstehenden Häuser asylsuchende Zigeuner einquartiert. Beschleunigte Abwanderung, Enteignungen und Abrisse waren das gewünschte  Ergebnis. Gleichzeitig jedoch wuchs der Widerstand der Restbewohner von Doel. 

Weltkulturerbe als letzte Hoffnung

Um Hausbesetzungen zu vereiteln, wurden etliche Häuser am Tag nach der Enteignung abgerissen, dabei sogar Nachbarhäuser so getroffen, daß sie gleich mit zerlegt wurden. Die verbliebenen 24 Bewohner von Doel wirken wie Asterix’ unerschrockene Gallier: „Wenn sie uns loswerden wollen, müssen sie uns hier wegtragen.“ Sie organiseren das jährliche Doelfest mit, stehen für wöchenliche kulturelle Veranstaltungen, damit das Polderdorf nicht in Vergessenheit gerät.

Die Zukunft von Doel ist offen. Zur Zeit hofft der in Antwerpen glücklos regierende Bürgermeister Bart de Wever (N-VA) auf einen Megadeal mit der saudi-arabischen „Energy Recovery Systems“. 3,7 Milliarden Euro wollen die Araber im Hafen für eine Chemieanlage investieren, mit der Abfälle zu Chemikalien gewandelt werden. „Ich kann dem nur zujubeln“, so de Wever. Auch der Antwerpener Hafensenator Marc van Peel von den Christdemokraten bekennt: „Ich bin sehr positiv gestimmt.“ Im Juli hat daher die flämische Regierung grünes Licht für den Bau des Saeftinghedocks gegeben.

Die Aktionsgruppe „Doel2020“ hingegen beantragte gerade, Doel und die es umgebende Polderlandschaft als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen. Sie befürchten zudem den Verkehrskollaps für das ohnehin schon extrem belastete Antwerpen. Jedenfalls haben sie gerade das Datum für das nächste Doelfest verkündet. Es wird am 14. August 2016 stattfinden – wenn Doel dann noch steht.