© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Nichts stoppt die Völkerwanderung
Report von der ungarisch-serbischen Grenze: Illegale marschieren einfach an den Grenzern vorbei / Der Balkan gibt angesichts des Ansturms auf
Billy Six

Plötzlich ist es vorbei mit nächtlicher Einsamkeit: An der nord-serbischen Überlandstraße 13 zwischen Horgoš und Kanjiža kommt im Lichte der Scheinwerfer ein wahrer Menschenauflauf zum Vorschein. Die Polizei hat einen Reisebus mit jugendlichen Festival-Besuchern gestoppt – daneben eine Ansammlung arabisch sprechender Menschen, groß und kompakt wie eine Schulklasse. Ihre Wanderung durch die Finsternis sei der Verkehrssicherheit nicht zuträglich, heißt es lapidar. Im Durcheinander wird der Weg diskutiert, und die Zusammenrottung löst sich auf, als wäre nie etwas gewesen. 

Die Migranten auf ihrem Fußmarsch zur ungarischen Grenze dürften gefilmt werden, so die Polizei. Die Staatsdiener selbst wollen außen vor bleiben. Sie schauen zu, wie sich die orientalischen Zuwanderer – zu 90 Prozent junge Männer– zügig ihren Weg durch die laue sternenklare Sommernacht bahnen. 

Selbst bei Tage ebbt der Strom nicht ab. Im Minutentakt sind die Gruppen zu erspähen. Unmittelbar hinterm Grenzübergang Ásotthalom kommen rund 20 junge Pakistani entgegen – sauber gekleidet, mit kleinen Rucksäcken. Sie wandern direkt auf die Zollstation zu,  um hinter dem Grenzschild nach rechts durch die Büsche zu verschwinden. 

Bis Ende August wird ein notdürftiger Zaun fertig sein

Am Ende eines verwilderten Feldes werden zwei ungarische Polizisten die Männer stellen – welche sich bereitwillig in die Straßenböschung setzen. In Griechenland, so sagen sie, hätten sie ohnehin schon ihren Fingerabdruck als EU-Einreisebeleg hinterlassen. Da komme es auf einen mehr in Ungarn auch nicht mehr an. Und zumindest bietet das Auffanglager Rözke Verpflegung, Duschen und Unterkunft. Die mangelhafte Umsetzung des Dublin-Abkommens scheint sich langsam herumzusprechen. 

Zwei afghanische Brüder, die wenige Minuten später ankommen, werden vor der Paßkontrolle von einem serbischen Beamten mit einem lauten Handklatschen verjagt – ein Hund von der Größe eines Pudels hilft nach. Die beiden umlaufen die Umzäunung und überschreiten die grüne Grenze wenige Meter abseits. Die neue Sperranlage der ungarischen Regierung wird an Straßen- und Schienenpassagen einfach passiert.

„Wir als Armee sind nur im Sondereinsatz, um diesen Zaun zu bauen“, sagt Armeesprecher Györgö bei einer Ortsbegehung. „Festnehmen dürfen wir die Migranten nicht, das ist Aufgabe der Grenzpolizei.“ Er fügt an, daß die Einwanderer ohnehin keine Angst vor der Staatsmacht mehr hätten. Als Asylbewerber würden sie nicht eingesperrt. „Sie ziehen so oder so weiter – meist Richtung Deutschland.“ 

Mit dem Militärwagen geht es über eine staubige Piste bei Kelebia. Hier entrollen Soldaten und zivile Helfer drei übereinander gespannte Reihen Nato-Draht entlang der Grenze zu Serbien. Die Sonne brennt, es sind fast 40 Grad Celsius. Insekten aller Arten schwirren aus dem Unterholz hervor. Eine Planierraupe walzt das Gelände frei. Weiter hinten haut ein Maschinenfahrzeug Metallpflöcke in den sandigen Boden. Es sind eher kleine, beinahe verlorene Einsatzgruppen in wildem Gelände. Die Ankündigung von Ministerpräsident Viktor Orbán, sein Land bis Ende August abzuriegeln, wird nur formal erfüllt werden können – mittels Klingendraht, Höhe 1,50 Meter. 

Der vier Meter hohe Sperrzaun entlang der 175 Kilometer langen EU-Außengrenze wird voraussichtlich erst zum 31. Oktober fertig sein. Auch die Kosten steigen: Von 6,5 Milliarden Forint (20,9 Millionen Euro) auf 9,5 Milliarden Forint (30,6 Millionen Euro). Es gibt erste Berichte von der Durchtrennung der niedrigen Drahtrollen. Nur bei Mórahalom sind beide Sperrsysteme bereits fertig – einige hundert Meter Präsentationsgelände für die Öffentlichkeit. Doch auch hier sitzt ein Ehepaar aus Afghanistan im Schatten der Bäume. Irgendwie haben sie es rüber geschafft – doch reden wollen sie darüber nicht.  

Der Bau der Grenzsperre führt derzeit zu besonders starkem Migrationsdruck, ganz nach dem Motto „Rein, solange es noch geht“. In der mazedonischen Kleinstadt Gevgelija kommen täglich 2.000 Migranten über Griechenland an. Hunderte prügeln sich um Plätze in den wenigen völlig überfüllten Zügen Richtung Norden. Der Staat hat vor dem Ansturm kapituliert. Die lokale Bevölkerung – ernüchtert. Immerhin ist mit dem Zusammenbruch der Grenze auch jedes Schleppergeschäft überflüssig geworden. 

Die Welle rauscht auch über die serbische Hauptstadt Belgrad hinweg, wo Tausende in den Parks kampieren und nach weiteren Bussen und Zügen für den Transit gen Norden Ausschau halten. Dort wundern sich die lokalen Taxifahrer, daß die Polizei ausgerechnet sie vom Geschäft aussperrt. 

Éberhardt Gábor, Polizeichef im südungarischen Szeged, stellt für seinen, den am meisten frequentierten Grenzabschnitt nun 1.300 bis 1.500 Ankömmlinge täglich fest. Im Gespräch mit der JUNGEN  FREIHEIT gibt er sich schwammig und unkonkret. Eine Kooperation mit der serbischen Seite gebe es – kommentieren wolle er sie jedoch nicht. Der Bau des Zaunes schließe nicht aus, daß künftig auch Wärmebildkameras und verstärkte Patrouillen zum Einsatz kämen. Und Strafverfolgung gebe es nur gegenüber gemeldeten Personen, die Fluchthilfe leisteten oder Dokumente fälschten. Klar ist nur eines: Waffengebrauch werde es gegen Migranten nicht geben, selbst wenn sie den Zaun stürmen sollten. 

„Die EU ist verteidigungslos“, sagt Regierungssprecher Zoltán Kovács im Exklusiv-Interview mit der JF. Beim Treffen im Budapester Justizministerium teilt er mit, daß von Januar bis Anfang August 115.000 Migranten illegal nach Ungarn eingedrungen seien. „85 Prozent von ihnen werden keinen Flüchtlingsstatus erhalten.“ Es seien Wirtschaftsmigranten. Kovács betont, daß Ungarn während der Balkankriege Zehntausende Asylsuchende aufgenommen habe – „und zwar gerne“. 

Wer jedoch fünf Grenzen überschreite, könne nicht mehr als Kriegsflüchtling gelten. Die Migranten folgten „Legenden vom Land der Möglichkeiten“, wo es Geld und Autos gebe. Ein „gefährliches Spiel für den Wohlfahrtsstaat“. Der studierte Jurist räumt ein, in Brüssel und westeuropäischen Medien einflußreiche Gegner zu haben. Er spricht von „Ungarn-Bashing“. Da es jedoch „keine allgemeine europäische Politik zum Streifendienst“ gebe, sei jedes EU-Mitglied selbständig für die Art und Weise der Grenzabsicherung zuständig. 

Orbán-Gegner innerhalb Ungarns werfen dem 52jährigen Ministerpräsidenten innenpolitische Machtmotive vor. Der fünffache Familienvater, der 2010 für seine Fidesz-Partei 52,7  Prozent Prozent der Stimmen holte, hat im Februar die Zweidrittelmehrheit seiner Koalition im Parlament verloren. Die rechtsradikale Jobbik“-Partei kann dafür mittlerweile jeden fünften Ungarn für sich begeistern. In seiner Rede beim XXVI. Studentenlager der Freien Sommeruniversität Bálványos ging Orbán in die Offensive. Die eigentliche Bedrohung rolle aus dem geburtenstarken Schwarzafrika an, seit die unruhigen arabischen Mittelmeeranrainer als Schutzwall ausfielen. „Ein oder zwei Jahre würden vergehen“, so Orbán, „und wir würden unser eigenes Heimatland nicht mehr wiedererkennen, wir würden das Land Ungarn nicht mehr wiedererkennen. Unser Land würde etwa so aussehen wie ein großes Flüchtlingslager, wie eine Art mitteleuropäisches Marseille.“

Von 110.000 Zuwanderern blieben nur 8.000 in Ungarn 

Tamas Lederer, ein freiwilliger Migrantenhelfer vom Budapester Bahnhof Keleti Palyaudvar, widerspricht. „Von den ersten 110.000 Migranten in diesem Jahr sind nur etwa 8.000 in Ungarn geblieben.“ Trotz kostenlosem Zugticket würden dazu gerade mal 20 Prozent überhaupt in den drei dauerhaften Auffanglagern ankommen, so der vollbärtige Buchhalter. Hier wie auch am Hauptbahnhof von Szeged sind es vor allem junge Frauen, die den Migranten aus Mitleid helfen – mit Blick auf kleine Kinder, die nicht verstehen, was ihre Familien vorhaben. Die Helfer verteilen gespendete Nahrungsmittel und Trinkflaschen. Sie weisen Lagerplätze in sogenannten „Transitzonen“ zu und versuchen, die öffentlichen Waschbecken und Toiletten sauberzuhalten.  

Mit Blick auf sie wie auf „die linke Presse in Deutschland“ urteilt Regierungssprecher Zoltán Kovács kategorisch: „Die extremste Meinung, die man in der Diskussion haben kann, ist jene, daß jeder kommen kann.“