© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Ausgehöhlt, untergraben, gebeugt
Niedergang des Rechts: Das Erbe des großen griechischen Philosophen Sokrates gerät in Vergessenheit
Paul Rosen

Generationen von Schülern haben sich mit der Frage gequält, warum Sokrates, der das Fundament des europäischen zivilisierten Denkens legte, trotz der von seinen Freunden vorbereiteten Flucht das zu Unrecht ergangene Todesurteil akzeptierte, den Schierlingsbecher trank und starb. Die Botschaft des großen griechischen Philosophen (gestorben 399 v. Chr.) zu verinnerlichen, ist nicht einfach: Sokrates lehnte die Flucht ab, um sich nicht selbst ins Unrecht zu setzen. Unrecht zu tun war für ihn schlimmer als Unrecht zu erleiden – bis zur bittersten Konsequenz, sein eigenes Leben hinzugeben, um das Recht und die Gesetze nicht zu gefährden. Gut 2.400 Jahre später ist der Zustand des Rechts in Deutschland mindestens als bedenklich zu bezeichnen, Sokrates’ Erbe gerät in Gefahr. 

Vom Radfahrer, der keine Verkehrsregeln mehr akzeptiert, bis zum Politiker, der die Wehrpflicht ohne Gesetz abschafft, reicht die Bandbreite des Verfalls. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof stellte zur Situation des Rechts in Deutschland fest: „Die Politik setzt für den Bürger verbindliche Regeln, ohne sich selbst an das Recht gebunden zu fühlen. (…) Das Grundprinzip des Rechts, das Gesetz soll herrschen und nicht Personen, ist in Gefahr.“ 

Dabei sollten Gesetze dazu dienen, der Herrschaft der unmittelbaren und unberechenbaren Gewalt ein Ende zu setzen. Allgemeingültige Gesetze sollten das „Recht des Stärkeren“ beenden. 

Tatsächlich wird das Recht hierzulande immer öfter ausgehöhlt, untergraben, gebeugt. Zwei Beispiele nur von vielen: Nach Fukushima ließ die Regierung Merkel Atomkraftwerke abschalten, ohne daß es dafür eine gesetzliche Grundlage gegeben hätte. Eine im Gesetz stehende Senkung des Rentenversicherungsbeitrages wurde nicht vorgenommen.

Der frühere CSU-Europapolitiker Otto von Habsburg sagte einmal, die Geschichte der EU sei eine Geschichte gebrochener Verträge. Er kannte die inzwischen noch weiter fortgeschrittene Durchlöcherung des Maastricht-Vertrages noch nicht. Im ZDF-Sommerinterview erklärte Angela Merkel das Dublin-Abkommen für erledigt. Das Abkommen, nach dem der Staat für Asylbewerber zuständig ist, in dem sie zuerst eintreffen, gelte nicht mehr, so die Kanzlerin. Das Abkommen ist von niemandem gekündigt worden. Der Grundsatz „Pacta sunt servanda“ gilt offenbar nicht mehr. 

Das Grundgesetz von 1949 entstand aus den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur, seine rechtstheoretischen Grundlagen gehen auch auf die griechische Philosophie und auf Sokrates zurück. Der Grundrechtsteil der Verfassung bindet alle Staatsorgane als unmittelbar geltendes Recht. Nur was ist, wenn die Kernbegriffe des Grundgesetzes umgedeutet werden, wie es George Orwell in seinem berühmten Buch „1984“ beschrieben hat – wenn „Neusprech“ die allgemeine Sprache ersetzt? 

Ein Beispiel für den Verfall des Rechts ist der Artikel 6 des Grundgesetzes, mit dem Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt werden. Der Druck, auch die Verbindungen von Homosexuellen nicht nur als „Ehe“ zu bezeichnen, sondern auch so zu behandeln, ist enorm, auch wenn der Wesensgehalt des Gesetzes dem entgegensteht: Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier wies zum Beispiel darauf hin, „daß das in Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Institut der Ehe … nicht nur dem Namen nach, sondern in seinen strukturbildenden Merkmalen vor beliebigen Dispositionen des Gesetzgebers geschützt“ sei. Sein Fazit: Der Gesetzgeber sei gehindert, „unter einem anderen Namen für gleichgeschlechtliche Paare ein der Ehe im übrigen entsprechendes Institut einzuführen“, schrieb Papier 2002 in einem Sondervotum zum Lebenspartnerschaftsurteil des Bundesverfassungsgerichts. 

Wie die Entwicklung über Papier hinweggegangen ist, zeigt eine in der FAZ vom 9. März 2013 wiedergegebene Äußerung des Bonner Staatsrechtlers Klaus Gärditz, der den grundgesetzlich vorgeschriebenen besonderen Schutz der Ehe als „Leerformel ohne Anwendungsbereich“ bezeichnete. Über den Hebel der Gleichbehandlung sei die Ehe letztlich zu einer Lebensform unter vielen herabgestuft worden.

Dazu werden Begriffe im Orwellschen Sinne verdreht. Ehe ist für viele nicht mehr die Verbindung von Mann und Frau, sondern alles mögliche. Bernd Rüthers, emeritierter Jura-Professor, erinnert an Verdrehungen des Rechts bis zur Unkenntlichkeit: „Die Rechtsperversionen im NS-Regime  und im SED-Staat wurden vor allem durch interpretative Inhaltsverschiebungen von Grundbegriffen bewirkt, etwa durch rassistische oder ideologische Umdeutungen von Begriffen wie Rechtsfähigkeit, Staatsbürgerschaft (‘Rechtsstandsschaft’), ‘Wesen der Ehe’ bis hin zu ‘Volksgemeinschaft’, ‘sozialistische Menschengemeinschaft’ und ähnliche Begriffsvertauschungen. Scheinbar kleine Umwertungen eines verfassungsgesetzlichen Grundbegriffs (…) können zentrale Teile der Rechtsordnung umgestalten.“ 

Genau das findet statt. Während auf der politischen Ebene das Recht umgedeutet wird, gilt auf immer mehr Straßen und Plätzen längst das Recht des Stärkeren. So schrieb die FAZ am 11. August dieses Jahres über den Görlitzer Park in Berlin: „14 Hektar Gesetzlosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Drogenhandel und Dreck mitten in der Stadt.“ Der ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) berichtete im Berliner Rundfunk, daß es in den letzten drei Jahren rund um den Görlitzer Park sieben Tötungsdelikte und 20 Vergewaltigungen gegeben habe.

Der Görlitzer Park ist kein Einzelfall. Von „rechtsfreien Räumen“ in Duisburg-Marxloh spricht der Bundestagsabgeordnete Volker Mosblech (CDU). Der Polizei-Gewerkschafter Arnold Plickert warnt: „Wir dürfen kriminellen Gruppierungen nicht die Straße überlassen.“ Keine Rede ist mehr von Kant, der die Exekution des Rechts zu seinem Wesen erklärte und von der Staatsgewalt verlangte, das Recht durchzusetzen.

Das sind schlechte Zeiten für das Recht und vor allem für Sokrates, der in Vergessenheit zu geraten droht. Als wenn Absicht dahinter stecken würde.