© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Alle leben in Koexistenz – noch
Ein Einwanderungsmärchen aus dem Reich der Hörnchen
Dieter Menke

In schöner Regelmäßigkeit beschwören die Medien in jüngster Zeit das Aussterben des possierlichen europäischen Eichhörnchens (Sciurus vulgaris). Ein exotischer Verwandter, das robuste nordamerikanische Grauhörnchen, mache dem zierlicheren heimischen Eichhörnchen den Garaus. Und zwar nicht, weil die grauen Einwanderer die rotbraunen Alteuropäer im blutigen Nahkampf niedermachen, sondern weil sie den Parapoxvirus mitbringen, gegen den sie selbst immun sind, der aber Eichhörnchen töten kann.

Tatsächlich ist diese Gefahr keine reine Medieninszenierung. In England wurden seit 1876 Grauhörnchen ausgesetzt, um die Natur zu „bereichern“, wie Tanya Lenn, die Leiterin des Vereins Eichhörnchenhilfe Berlin-Brandenburg, schreibt (Mensch und Tier, 2/15). Mit der Folge, daß ein mitgereister Virus britische Hörnchen-Populationen kräftig dezimierte. Das typische Bild der Londoner Parks zeige daher heute die US-Grauhörnchen, die sich allerorten tummelten. Nur in Reservaten ähnelnden Bezirken gelang es, heimische Eichhörnchen vor dem Untergang zu bewahren. 

Verdrängung als Parabel auf Zustände im Menschenreich

Derzeit richten sich die Hoffnungen der Tierschützer auf den sich wieder vermehrenden Baummarder, für den das langsamere Grauhörnchen leichte Beute ist, sowie auf die Entwicklung eines Impfstoffs gegen den Parapoxvirus.

Das britische Desaster rechtfertigt für Lenns Einschätzung jedoch keine kontinentale Medienpanik. Freilich biete der für Nager unüberwindliche Ärmelkanal keinen Schutz, da man in den 1950ern auch in Italien Grauhörnchen importierte. Zwar hätten, wie Lenn einräumt, ein paar Grauexemplare Italiens Grenze zur Schweiz erreicht. Aber im dortigen Nadelwald täten sich die Laubwaldliebhaber schwer und stellten noch keine Gefährdung für Eichhörnchen dar, sondern „alle leben in Koexistenz“.

Im gutmenschlichen Subtext drängt sich hier allzu penetrant das Hörnchen-Beispiel als Parabel für den Umgang mit der aktuellen Invasion des afrikanisch-orientalischen Bevölkerungsüberschusses nach Europa auf. Dann gilt allerdings auch Lenns realitätstauglichere Warnung, daß nun leider die „langfristige Problematik einer eventuellen Verdrängung der roten Hörnchen nicht von der Hand zu weisen“ sei.