© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Der Flaneur
Allein unter Polen
Paul Leonhard

Schön ist es hier. Vom Jugendstil-Bahnhof bin ich mit dem Klappfahrrad die Magistrale entlanggefahren. Na ja, eigentlich bin ich gerollt. Die Stadtplaner des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren clever. In die Innenstadt geht es leicht bergab, damit, später, der Abschied um so schwerer fällt: aufwärts, zum Zug hastend. Und jetzt sitze ich auf einer Bank und genieße einen Platz, wie er nach dem trümmerreichen Zweiten Weltkrieg in Deutschland nur selten zu sehen ist. Ein zentraler Brunnen mit Figur, ein preußisches Postamt aus rotem Klinker, gegenüber das Land- und Amtsgericht. Goldgeschmückt die Fassade der Sparkasse, prächtig die spätklassizistische Ansicht des einstigen Hotels, dazu Gründerzeithäuser in Reih und Glied. Von einem blickt gar die Büste des Kaisers auf Kopftuchfrauen. Letztere scheinen neu im Stadtbild zu sein, denn auch die Einheimischen schauen ihnen nach und tuscheln.

Dann plötzlich wüste Schimpfworte in einer mir fremden Sprache. „Kurwa“ verstehe ich.

Ein junger Mann weist mir den Weg in die Altstadt. Obermarkt, Untermarkt. Das Rathaus, ein Komplex verschiedener Gebäude, zeugt vom Wachsen der Bürokratie in all den Jahrhunderten seit der Stadtgründung. Abwärts geht es zum Fluß, wo eine Brücke dort steht, wo einst die Furt war, der die Stadt ihre Gründung verdankt. Spazierwege auf beiden Seiten entlang des Wassers. Bänke laden zum Verweilen ein.

Dann plötzlich wüste Schimpfworte in einer mir fremden Sprache. Sie kommen vom anderen Ufer. Eine junge Frau wettert zu einem Fenster im ersten Stock eines verfallenen Hauses herauf. Das Fenster öffnet sich. Eine ältere Frau taucht auf. Ich höre nicht, was sie sagt. Aber die andere keift erneut. „Kurwa“ verstehe ich mehrfach. Klar, drüben ist seit 70 Jahren Polen. Am deutschen Flußufer, neben mir, wird andächtig gelauscht, dann wird der Streit kommentiert, und es wird gelacht. Ein paar junge Frauen lehnen sich an das Geländer, damit ihnen kein Wort entgeht. Alle verstehen, um was es geht. Nur ich nicht. Ich bin allein unter Polen.